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Spenderkonditionierung – der manipulierte Sterbeprozess

Die meisten Menschen wünschen sich einen ruhigen, schmerzlosen Sterbeprozess, wenn möglich begleitet von ihren Angehörigen oder Freunden. Diesen Wunsch erfüllt weitgehend die Palliativmedizin. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, Sterbenden einen sanften, auf individuelle Bedürfnisse abgestimmten Weg in den Tod zu ermöglichen.

Völlig andere Prioritäten stehen bei einer geplanten Organentnahme im Vordergrund. Und das bereits beim ersten Verdacht auf Hirntod. Um die Organqualität zu erhalten, muss der Organismus des Spenders mit intensivmedizinischer Maximaltherapie aufrechterhalten werden. Droht der Kreislauf zusammenzubrechen, wird der Spender wiederbelebt, mechanisch oder medikamentös. All das gehört zu den sogenannten „organprotektiven Maßnahmen“, in der Fachsprache auch „Spenderkonditionierung“ oder „spendezentrierte Maßnahmen“ genannt. Sie beginnen bereits vor der Hirntoddiagnostik, ohne Wissen der Angehörigen, immer dann, wenn die Prognose des Patienten nach ärztlichem Ermessen aussichtslos ist und der Patient für die Mediziner als Organspender in Betracht kommt.

Den meisten Menschen, die bereit sind, Organe zu spenden, ist das nicht bewusst. In den öffentlichen Aufklärungskampagnen ist lediglich davon die Rede, dass der potentielle Spender beatmet und intensivmedizinisch betreut werden muss. Welche umfangreichen, fremdnützigen Maßnahmen (zum Wohle des späteren Empfängers) oft bereits vor der Hirntoddiagnostik, aber auch da- nach notwendig sind, darüber wird in den Aufklärungskampagnen konsequent geschwiegen. Dem Charakter nach dienen diese Aufklärungskampagnen eher der Werbung als der Aufklärung über die Abläufe einer Organspende.

Anders in der Fachliteratur der letzten 13 Jahre. Dort sind nicht nur in der medizinischen, sondern auch in der medizinjuristischen und bioethischen Fachliteratur die sogenannten “organprotektiven Maßnahmen“ ein wichtiges Thema. Analysiert und ausgeleuchtet wurde die rechtliche Grauzone[1] dieser gängigen Praxis, die 2015 auch vom Deutschen Ethikrat als dringend regelungsbedürftig bezeichnet wurde. Denn der potentielle Spender ist zu diesem Zeitpunkt noch Patient, mit allen ihm zustehenden Rechten, z. B., dass es für jede therapeutische Maßnahme einer ausdrücklichen Zustimmung bedarf. Ein Rechtsanspruch, der oft schlicht ignoriert wird.

Ein medizinethisches Minenfeld

Erst 2019, viele Jahre nachdem renommierte Wissenschaftler immer wieder vor juristischen Konsequenzen gewarnt hatten, entschloss sich der Gesetzgeber, dieses rechtliche und medizinethische Minenfeld gesetzlich zu regeln. Das Gesetz zur Verbesserung der Zusammenarbeit und der Strukturen bei der Organspende (GZSO) trat in Kraft. Es macht allerdings all das möglich, was vorher zwar ohne Zustimmung praktiziert wurde, aber rechtlich höchst umstritten war. Der Chefarzt und Medizinethiker Stephan Sahm nannte das Gesetz in seinem FAZ-Artikel vom 25.02.2019: „Der Übereifer vor dem Tod“ ein „Lehrstück medizinethischen Dammbruchs“[2].

Die Quintessenz des Gesetzes: Jeder Patient, der nach ärztlichem Ermessen für eine Organentnahme geeignet ist, gilt erst einmal als potentieller Organspender. Die Ärzte sollen bei bestimmten schweren Hirnschädigungen nicht ausschließlich an den Patienten denken, sondern prinzipiell parallel auch an die Option einer Organspende. Erst ein eindeutiges Nein der Angehörigen, ein Nein in der Patientenverfügung oder im Organspendeausweis beendet die Spenderkonditionierung[3]. Informiert wird die Öffentlichkeit darüber nicht.

Das Procedere

Schon bei Einlieferung in die Klinik wird im Schockraum nachgeschaut, ob der Notfallpatient über einen Organspendeausweis verfügt. Das ist aber nur äußerst selten der Fall. Trotzdem wird – auch wenn kein Organspendeausweis vorliegt – routinemäßig der Transplantationsbeauftragte eingeschaltet. Er hat die sogenannte „Durchsetzungsbefugnis“, z. B. jederzeit Zugang zur Intensivstation, das Recht den Patienten zu inspizieren und uneingeschränkte Akteneinsicht. Seine Aufgabe ist es, jeden möglichen Organspender zu identifizieren, zeitnah die Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO) zu informieren und die intensivmedizinische Konditionierung des Patienten für eine mögliche Organ- spende zu veranlassen. Auch davon wissen die Angehörigen meist nichts. Zusätzlich ist er befugt, mit einem anderen Arzt rechtskräftig den Hirntod festzustellen. Eine Praxis, die die Bundesärztekammer 2014 noch als Interessenkonflikt bezeichnete und untersagte. Wenig später wurde sie erlaubt.

Je nach Zustand des schwer hirnverletzten Patienten sind unter- schiedliche Maßnahmen notwendig, um die Organe für die spätere Explantations-OP transplantabel zu erhalten. In dem Positionspapier der Deutsche Gesellschaft für Intensivmedizin ist von sogenannten Eingriffsintensitäten die Rede.

Bei geringer Eingriffsintensität geht es um maschinelle Beatmung und eine entsprechende Medikation. Darüber wird der Laie in der Regel in den Aufklärungskampagnen informiert. Nicht aber darüber, dass in vielen Fällen bereits bei Verdacht auf Hirntod sehr viel aufwendigere intensivmedizinische Maßnahmen notwendig sind, um für die Explantations-OP eine möglichst gute Organqualität zu gewährleisten.

Schon bei mittlerer Eingriffsintensität geht es z. B. um Nierenersatzverfahren (z.B. Dialyse), Intensivierung der Beatmung etc.

Bei hochgradiger Eingriffsintensität, wenn der Organismus des Patienten droht zusammenzubrechen, z. B. um „mechanische oder extrakorporale Wiederbelebung, Massivtransfusionen oder sogar operative Maßnahmen zur Behandlung von Komplikationen“ [4].

Wohlgemerkt: Das alles darf ohne Zustimmung erfolgen, wenn kein rechtlich verbindliches Nein zur Organentnahme vorliegt. Der Gesetzgeber setzt – warum auch immer- voraus, dass der Bürger weiß, was auf ihn zukommt. Noch immer steht im Organspendeausweis „nach meinem Tod“. Das nicht der Realität enspricht.

Von bereits fremdnützigen intensivmedizinischen Maßnahmen zu Gunsten des späteren Organempfängers in der Sterbephase ist weder in den Aufklärungskampagnen noch in der Laienpresse die Rede. Auch nicht von einer Verlängerung des Sterbeprozesses.

Warnende Stimmen aus der Wissenschaft

Anders, wie bereits erwähnt, steht es in der Fachliteratur. Diverse Medizinjuristen, Rechtsmediziner und auch der Deutsche Ethikrat bezeichneten diese gängige Praxis wiederholt als rechtlich hochproblematisch[5]. 23 von 26 Mitgliedern des Deutschen Ethikrates verlangten in ihrer Stellungnahme von 2015 unmissverständlich eine rechtliche Regelung. Nur drei waren in einem Sondervotum dagegen. Sie behaupteten, eine fremdnützige Spenderkonditionierung gäbe es gar nicht. Wortführer war der bekannte Transplantationsmediziner Eckhard Nagel[6].

Was den meisten Bürgern auch nicht klar ist: Wenn eine Hirntoddiagnostik geplant ist, darf der potentielle Spender keine Schmerz- und Beruhigungsmittel mehr bekommen. Denn diese verfälschen die Hirntoddiagnostik. Der Deutschen Städtetag als Träger der Kommunalen Kliniken sah darin in seiner Stellungnahme zum Entwurf des GZSO ein gravierendes Problem, denn vor der Hirntoddiagnostik wissen auch die behandelnden Ärzte nicht, ob sich die Prognose „irreversibler Hirnfunktionsausfall“ (Hirntod) bestätigt, Zitat:

„Da hirnverletzte Patienten aus therapeutischen Gründen in tiefer Sedierung gehalten werden, sind bis zum Beginn der Hirntoddiagnostik oft tagelange „Abklingphasen“ ohne Sedierung und Schmerzmedikation erforderlich. Falls der Patient nicht hirntot ist, erleidet er in dieser Phase potentiell Schmerzen“[7].

Das sei, so die Stellungnahme, aus Sicht vieler Ärzte unethisch. Deshalb plädieren sie dafür, dass die Schmerz- und Beruhigungsmittel nur bei schwer hirnverletzten Patienten abgesetzt werden, bei denen eindeutig feststeht, dass sie Organe spenden wollen. In der Richtlinie „Spendererkennung“ der Bundesärztekammer von 2020 heißt es vage, die rechtlichen Vertreter „sollten“ auf die bereits fremdnützigen Maßnahmen zum Erhalt der Organfunktion hingewiesen werden. Auch darauf, dass die forcierte intensivmedizinische Maximaltherapie beim bereits im Sterbeprozess befindlichen Patienten ein sog. Apallisches Syndrom, also ein Wachkoma zur Folge haben kann[8]. Das heißt, der Patient mit der Prognose Hirntod, der von den Ärzten schon aufgegeben wurde, kann plötzlich wieder selbstständig atmen und schlucken. Ein GAU für die Klinik, wenn Angehörige bereits nach Organen gefragt wurden, und die Ärzte ihnen gegenüber jede Erholung des Patienten ausgeschlossen hatten.

Selbst diese heikle, auch versicherungstechnisch relevante Pro- blematik bleibt in den Aufklärungskampagnen unerwähnt. Dabei wurde die Gefahr des Wachkomas bereits 2010 von einem ehemaligen Mitglied des Deutschen Ethikrates, der Bioethikprofessorin Bettina Schöne-Seifert in einem Grundsatzartikel im Deutschen Ärzteblatt thematisiert[9], zwei Jahre später dann von zwei Intensivmedizinern der Universitätsklinik Münster[10].

Zusammenfassend lässt sich sagen: Die meisten Bürger haben keine Ahnung, was eventuell auf sie zukommt, wenn sie mit einer schweren Hirnverletzung, einem Schlaganfall oder einer Hirnblutung auf eine Intensivstation eingeliefert und als potentielle Organspender ins Auge gefasst werden. Deshalb empfiehlt sich für den Fall, dass man keine Organe spenden will, unbedingt ein Nicht-Spender-Ausweis im Portemonnaie. Außerdem sollte so schnell wie möglich eine detaillierte Patientenverfügung in der Klinik vorliegen. Nur so besteht die Chance, dass man bei Verdacht auf Hirntod nicht in das Organspende-Verfahren einbezogen und ohne Zustimmung ausschließlich zu Gunsten des späteren Organempfängers behandelt wird. Und das bedeutet, wie bereits erwähnt, intensivmedizinische Maximaltherapie, invasive Maßnahmen wie das Legen von Kathetern, u. U. Wiederbelebung (Reanimation), eine Verlängerung des Sterbeprozesses, keine Schmerz- und Beruhigungsmittel sowie diverse Organchecks wie Herzkatheter, Darmspiegelung etc. Ein ruhiges, ungestörtes, von Angehörigen oder Freunden begleitetes Sterben ist unter diesen Umständen nicht möglich. Deshalb sollte man das Verfassen einer eindeutig dokumentierten Willensbekundung auf keinen Fall auf die lange Bank schieben. Nur so kann man sicher sein, dass es im Fall des Falles im Sterbeprozess ausschließlich um einen selbst geht und nicht um das logistisch ausgefeilte, sogenannte „Spendermanagement“ der Transplantationsmedizin.

LITERATUR

  1. Parzeller, Marcus et.al.: Rechtliche Grauzone. Deutsches Ärzteblatt 2017;114(8):137
  2. Sahm, Stephan: Der Übereifer vor dem Tod. FAZ v. 25.2.2019
  3. BÄK- Richtlinie Spendererkennung, Deutsches Ärzteblatt 2020, A2-A3
  4. Neitzke, G. et.al.: Entscheidungshilfe bei erweitertem intensivmedizinischen Behandlungsbedarf auf dem Weg zur Organspende. Med. Klinik-Intensivmedizin u. Notfallmedizin, online v. 11.April 2019, Punkt 2.4.
  5. Deutscher Ethikrat: Hirntod und Entscheidung zur Organspende. Stellungnahme S. 46 ff
  6. Deutscher Ethikrat: Hirntod und Entscheidung zur Organspende, Sondervotum. S. 173 ff
  7. Deutscher Städtetag: Stellungnahme zum Entwurf des GZSO v.19.09.2018, S.3-4
  8. BÄK- Richtlinie Spendererkennung, Deutsches Ärzteblatt 2020, S. A2 ff
  9. Schöne-Seifert, B.: Behandlung potentieller Organspender im Präfinalstadium. Deutsches Ärzteblatt 2011;108(40): A 2080-6
  10. Van Aken, H. et al: Konfliktfall Organspende. Anästhesio log. Intensivmed. 2012;47(3):133-134

Filmbeiträge zur Spenderkonditionierung

Verwirrung für Organspender –
der
 Konflikt mit der Patientenverfügung
,
Silvia Matthies, ARD Report 2013


Grauzone Organspende –
der
 Konflikt mit der Patientenverfügung
,

Regina Breul, Silvia Matthies, YouTube 2013

Weiterführende Artikel

Becker, Kim Björn:

Einseitig interessensgeleitete Informationspolitik,
FAZ v.14.03.2018



Duttge G, Neitzke G:
Zum Spannungsfeld zwischen Intensivmedizin u. Organtransplantation,
DIVI 2015; 6:144-149


Höfling W., in der Schmitten J.:
Weiß der Spender was mit ihm geschieht?,
FAZ v. 15.01. 2019

Autoreninfo

Silvia Matthies, Fernsehjournalistin

ist als Fernsehjournalistin seit mehr als 30 Jahren auf Medizinethik spezialisiert. Sie hat für ihre kritischen Dokumentationen (ARD) z.B. zum Hirntodproblem diverse Auszeichnungen bekommen, unter anderem von Ärzteorganisationen. (silvia-matthies.de)