Nun, da die Pandemie auszulaufen scheint, ist es möglicher Weise nicht mehr so populär, auf die Verletzlichkeit des Menschen bzw. einzelner vulnerabler Gruppen hinzuweisen. Auch weil die vielleicht unterschätzten wirtschaftlichen sowie die immateriellen Kosten nun offensichtlicher zu Tage treten.
Trotz gegensätzlicher Positionen in der Gesellschaft und teils harscher Kritik an den Corona-Maßnahmen kann man sagen, dass zumindest in breiten Teilen der Bevölkerung während der Pandemie ein Konsens bestand und in geringerem Maße noch besteht hinsichtlich der Notwendigkeit, auf vulnerable Menschen Rücksicht zu nehmen. Auch wenn die monetären und immateriellen Kosten der Freiheitseinschränkung hoch sind und wiederum andere Gruppen wie z.B. Kinder dadurch benachteiligt wurden.
Zurecht wurde auf die Gruppe der immunsupprimierten Menschen hingewiesen, sowohl auf diejenigen, die durch Erkrankungen wie Blutkrebs oder AIDS immunsupprimiert sind, als auch Patienten mit iatrogener Immunsuppression nach Stammzelltransplantation oder Organtransplantation. Diese Patienten sind durch eine Covid-19 Erkrankung besonders gefährdet und es ist für sie zudem aufgrund des defizienten Immunsystems auch schwieriger, mit Hilfe einer Covid-19 Impfung einen ausreichenden Immunschutz aufzubauen.
Während der ersten Welle der Pandemie wurde von Seiten der Transplantationsmedizin allerdings auch postuliert (1), Patienten mit supprimiertem Immunsystem könnten aufgrund einer krankheitsbedingt weniger aggressiven Immunantwort auf eine Infektion sogar Vorteile gegenüber immunkompetenten Patienten haben und deshalb sogar besser mit einer Covid-19 Infektion zurechtkommen als immunkompetente Menschen. Diese etwas naïve Hoffnung hat sich nicht erfüllt.
(1) „Die klinischen Verläufe bei Immunsupprimierten Kindern legen stattdessen nahe, dass das Virus eventuell nur dann aktiv und damit auch infektiös für andere Menschen werden kann, wenn es primär auf einen Wirt trifft, der ein gut ausgebildetes Immunsystem unterhält und in dem sich das Virus dann durch Auseinandersetzung mit den Abwehrzellen des Körpers aktiv vermehren und weiter ausbreiten kann. Bei kleinen Kindern ist das nicht unbedingt der Fall, das Virus kann sich nicht so gut vermehren, es kommt nicht zu einer klinisch sichtbaren Erkrankung, das Virus wird vermutlich nicht weitergegeben…Es drängt sich der Gedanke auf, dass die reduzierte Möglichkeit für eine Immunantwort bei den jungen Transplantierten bei dieser Infektionskrankheit (Covid-19) unter Umständen sogar ein Vorteil sein könnte. Einen ähnlichen Eindruck kann man gewinnen, wenn man sich die SARS-CoV‑2 positiven Kinder, die an einer Krebserkrankung leiden und aufgrund einer Chemotherapie ebenfalls erheblich in ihrer Immunantwort geschwächt sind, ansieht.“
Eckhard Nagel, Angelika Eggert, Öffnet die Kitas!, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22.04.2020
Im Gegenteil ist es gerade wegen des kompromittierten Immunsystems von onkologischen, transplantierten und sehr alten, geschwächten Menschen für diese schwieriger als für immunologisch nicht beeinträchtigte Menschen, eine Covid-19 Infektion erfolgreich zu bekämpfen und das Sars-Cov-2-Virus vollständig zu eliminieren mit nachfolgend entsprechender Immunkompetenz. Analog dazu ist auch die Immunantwort auf eine SARS-Cov‑2 Immunisierung mit mRNA-Impfstoffen oder Vektorimpfstoffen und wohl auch proteinbasierten Impfstoffen entsprechend weniger ausgeprägt und wird daher bei dieser Patientengruppe höher frequent, in kürzeren Abständen und teilweise mit höheren Dosen als bei nicht-kompromittierten Patienten empfohlen.
Kinder zeigen eine ausgezeichnete Immunantwort auf eine Covid-19 Infektion, natürlich vermehrt sich das SARS-Cov‑2 Virus bei ihnen ebenfalls, es kommt auch zu klinisch sichtbaren Erkrankungen, teils mit hohem Fieber und ausgeprägten Infektzeichen und das Virus wird natürlich ebenfalls weitergegeben.
„Patienten mit transplantiertem Organ hatten eine höhere Wahrscheinlichkeit, während der Studiendauer zu versterben, verglichen mit entsprechenden Patienten ohne Organtransplantation (21,9 % vs. 14.9 %, Odds Ratio 1,93, 95 % Konfidenzintervall: 1,18 – 3,15). Außerdem war der Status einer Organtransplantation mit einer höheren Wahrscheinlichkeit assoziiert, invasiv mechanisch beatmet werden zu müssen, einen akuten Nierenschaden zu entwickeln und vasopressorische Unterstützung während des Krankenhausaufenthaltes zu benötigen.“
Clin Transplant 2021, April, Outcomes of Covid-19 in hospitalized solid organ transplant recipients compared to a matched cohort of non-transplant patients at a national healthcare system in the United States, Arielle M Fischer, Daniel Schlauch, Matthew Mulloy, Ann Dao et al., https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/33406279/
Ein ähnliches Bild zeigte sich auch bei einem Covid-19 Ausbruch auf einer onkologischen Station des Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf im Frühjahr 2020, bei dem auch jüngere, onkologische Patienten an Covid-19 verstarben.
Von einer anderen vulnerablen Gruppe war jedoch nicht die Rede: den Menschen im irreversiblem Hirnversagen, dem sog. Hirntod. Sie stehen exemplarisch für die Verletzlichkeit des Menschen, sie sind maximal wehrlos und völlig auf ihre Mitmenschen angewiesen, ihnen anvertraut.
Beim (ärztlichen) Umgang mit diesen Patienten zeigt sich die ethische Qualität einer Gesellschaft ebenso oder noch deutlicher als im Umgang mit weniger vulnerablen, also allen anderen Patientengruppen. Hier wird am Verhalten der Gesellschaft gegenüber den Schwächsten der Schwachen die ethische Grundhaltung einer Gesellschaft auf die Probe gestellt. Es wird offensichtlich, ob es der Gemeinschaft Ernst ist mit den behaupteten, hohen ethisch-moralischen Ansprüchen, oder ob diese ab einem gewissen Punkt oder Zustand über Bord geworfen werden.
Dieser Zeitpunkt, an dem sich die Medizin bzw. die Gesellschaft von den Schwächsten der Schwachen (Patienten) abzuwenden droht, ist der Moment, an dem diese Patienten am meisten auf die Fürsorge und Begleitung durch ihre Mitmenschen angewiesen sind.
Es ist der Moment, in dem hinreichend erfahrende und qualifizierte Ärzte nach sorgfältiger klinischer und medizintechnischer Diagnostik zu dem Schluss kommen, dass eine irreversible und mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit fatal fortschreitende Schädigung des Gehirnes vorliegt, sodass es vertretbar ist, eine auf die Heilung des schwerkranken Patienten abzielende Behandlung abzubrechen.
Im gleichen Moment besteht jedoch der moralische Imperativ zur palliativen, begleitenden, schmerzabschirmenden medizinisch-pflegerischen Therapie und somit zur menschlichen Fürsorge, die den Schwerstkranken bis zu seinem Tod schützen, Schmerzen, Ängste und Stress minimieren soll, damit der sterbende Mensch so wenig wie möglich Leid erfährt.
Ein „Hirntoter“ bzw. ein Patient mit einer irreversiblen, mit hoher Wahrscheinlichkeit letal endenden Hirnschädigung, ist ein lebender Mensch, der Nahrung verdaut und ausscheidet, dessen Energiehaushalt funktioniert, der zwar maschinell beatmet wird, dessen Sauerstoffaustausch jedoch sowohl in der Lunge als auch auf Zellebene in den Organen gut funktioniert, dessen Immunsystem arbeitet und Infektionen erfolgreich bekämpft, ja, der sogar auf eine Covid-19 Impfung hin gut reagiert und hohe Antikörpertiter aufbaut und damit prinzipiell in der Lage ist, sich gut gegen eine Covid-19 Infektion zu schützten.
Außerdem bleiben selbst in vielen Fällen die hormonellen Regelkreise intakt, die auf das Funktionieren bestimmter Hirnareale angewiesen sind, wie z.B. Hypothalamus und Hypophyse.
Die Kommunikationsfähigkeit zur Außenwelt erfolgt im Wesentlichen auf Reflexebene. Beispielsweise reagiert ein „hirntoter“ Patient mit Schweißausbrüchen, Blutdruck- und Pulsanstieg auf Stress oder ihm zugefügte Verletzungen wie z.B. invasive Untersuchungen und Eingriffe oder die Operation zur Entnahme seiner Organe. Bewegungen der Extremitäten sind ebenfalls möglich (Umarmungsreflex). Während man bei Tieren selbst primitive Reflexe immer als eindeutiges Zeichen von Leben deutet, übergeht man diese Zeichen in der Transplantationsmedizin mit dem Ausspruch „das sind ja nur Reflexe!“. Ein Hirntoter kann mit diesen Reflexen jedoch sogar ein Kind zeugen, schwangere Frauen können Kinder austragen und haben dies in zahlreichen, dokumentierten Fällen auch getan.
Der moralische Imperativ der Transplantationsmedizin ist jedoch ein Gegensätzlicher. Sie versteht den sterbenden „hirntoten“ Patienten als materielle Organ-Ressource für andere, leidende Patienten, nämlich z.B. solche mit terminalem Nieren‑, Herz- oder Lungenversagen.
Diese Medizin handelt dann nicht mehr im Sinne des ihr anvertrauten, leidenden Patienten im Hirntodsyndrom, sondern gibt ihn auf und kehrt sich von ihm ab, beurteilt ihn nunmehr nur noch nach seinem „Organwert“ für einen anderen kranken und leidenden Menschen.
Dieser Andere soll durch den Austausch des kranken Organes mit dem relativ gesunden Organ des Patienten im Hirntodsyndrom „geheilt“ oder zumindest in seiner beeinträchtigten Organleistung merklich „verbessert“ werden. Dass dieses teilweise gelingt, ist beständiger Inhalt der Werbekampagnen der Transplantationsmedizin bzw. der BZgA (Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung). Dass diese Praxis in vielen Fällen auch für die Organempfänger letal endet oder mit sehr hohen gesundheitlichen Nachteilen, Kosten und Einschränkungen verbunden ist, dringt weniger stark an die Öffentlichkeit.
Daher fordert KAO, dass
- Menschen im Hirntodsyndrom dem rationalen und wissenschaftlichen ärztlichen Ethos folgend ihren Status als lebende Menschen bis zu ihrem Herz-Kreislauf-Tod behalten
- Primäres Ziel der Behandlung dieser Menschen die palliative medizinische Therapie und pflegerische Fürsorge zur Minderung von Schmerzen, Leid und Stress oberstes Gebot für alle Beteiligten sein muss
- Die Ausweitung und Ausrichtung medizinischen Handels auf unbeteiligte Dritte, d.h. mögliche Organempfänger, im Sinne eines Therapiestrategiewechsels hin zur Organ-protektiven, nur noch dem anonymen Organempfänger nutzenden Therapie zur Maximierung des späteren Transplantationserfolges nur dann erfolgen darf, wenn
- Eine valide Zustimmung des Patienten im Hirnversagen zur Bereitschaft der Organspende im Falle des irreversiblen Hirnversagens vorliegt und
- Der Zustand des irreversiblen, fatal verlaufenden Hirnversagens (sog. Hirntod) nach sorgfältiger klinischer Untersuchung durch ausreichend erfahrene Fachärzte festgestellt wurde, unter obligatem Einsatz bildgebender Verfahren wie Angio-Computertomographie bzw. MRT, der Ableitung der elektrischen Hirnströme (EEG), und unter Beachtung der zeitlichen Mindesttherapiedauer und dem laborchemischem Ausschuss anderer, den Hirntod imitierende Faktoren wie Intoxikationen, Elektrolytverschiebungen, Unterkühlung etc.
- Gesellschaftsweit eine neutrale und umfassende, nicht einseitig auf die Bedürfnisse potentieller Organempfänger ausgerichtete Aufklärung über den „Hirntod“ und Organtransplantationen stattfindet, anstelle der bisher einseitigen staatlichen Förderung der medizinischen Institutionen durch die BZgA und des BGM, deren Ziel die Ausweitung der Transplantationsmedizin ist
- Auch das Leid und die Bedürfnisse der Angehörigen von Patienten im unumkehrbaren Hirnversagen ausreichend berücksichtigt werden, und diese keinesfalls unter moralischen Druck mit Hinweis auf die Lebensrettung Dritter durch eine „Organspende“ gesetzt werden dürfen
Im Sinne der Solidarität mit den Schwächsten unserer Gesellschaft, denen, die in ihrem Leid am stärksten auf unsere advokative Fürsorge angewiesen sind, dass wir sie schützen und versuchen, ihr Leid zu lindern und sie nicht größerem Leid ausliefern, dieser Aufgabe bleibt KAO verpflichtet.
Anmerkung zur Transplantation von Organen SARS-CoV‑2 positiver sog. Organspender im irreversiblen Hirnversagen
Eine Infektion mit SARS-CoV‑2 eines Patienten mit irreversiblem Hirnversagen (sog. Hirntod) schließt eine Organentnahme keineswegs aus. In Deutschland waren im April 2022 10 von 55 (18 %) der Organspender SARS-CoV‑2 positiv. Es ist bekannt, dass Spenderorgane vermehrungsfähige Viren enthalten. In drei Fällen ist es bei einer Lungentransplantation zu einer Übertragung einer SARS-CoV‑2 Infektion vom Spender auf den Empfänger gekommen. Sogar Menschen mit schwerstem Krankheitsverlauf von Covid-19, der in den Status des irreversiblen Hirnversagen mündete, und bei denen im Falle einer Organübertragung ein erhöhtes Infektionsrisiko besteht, werden als potenzielle Organspender angesehen.
Organspende: Nebendiagnose Corona, Richter-Kuhlmann, Eva, Deutsches Ärzteblatt 2022, https://www.aerzteblatt.de/archiv/225193/Organspende-Nebendiagnose-Corona
Auch hier weisen wir jenseits der Gefährdung potenzieller Organempfänger durch eine vom sog. Spender auf den Organempfänger übertragene Infektionskrankheit oder Nachteile durch die aufgrund der Infektionskrankheit verminderte Qualität der Organe auf das Leid der sog. Organspender im irreversiblen Hirnversagen hin. Ist es vertretbar, Patienten, die sich nach wochen- oder monatelanger, letztlich frustraner intensivmedizinischer Behandlung im Status des irreversiblen Hirnversagens befinden, schließlich noch einer Multiorganentnahme mit allen dazugehörigen Begleitprozeduren zu unterziehen? Wir denken, dass dies in der Regel nicht der Fall ist. Mit Ausnahme vielleicht der wenigen Fälle, in denen sich der potenzielle Organspender darüber im Klaren war, was eine Entscheidung zur Organentnahme im Detail für ihn und den Organempfänger in diesem Fall (einer erfolglosen Behandlung einer Covid-19 Infektion) bedeutete, und er seine Zustimmung zur Organentnahme im Vorfeld im Zustand der uneingeschränkten Urteilsfähigkeit getroffen und mitgeteilt hat.
Sie finden die Forderungen dieser KAO Stellungnahme auch in der KAO Pressemitteilung zum Tag der Organspende 2022 veröffentlicht am 02.06.2022 auf der KAO Internetseite und bei OpenPR.