Offener Brief – Entschließungsantrag des Bundesrats zur Einführung der Widerspruchsregelung als Grundlage von Organspenden

Der Bun­des­rat for­dert die Ein­füh­rung der Wider­spruchs­lö­sung für Organ- und Gewe­be­ent­nah­men ohne indi­vi­du­el­le Ein­wil­li­gung (Druck­sa­che 582/23), obwohl 2020 das deut­sche Par­la­ment dies bereits abge­lehnt hat. Das am 1. März 2022 in Kraft getre­te­ne, novel­lier­te Trans­plan­ta­tions­ge­setz (TPG) sieht im Rah­men der erwei­ter­ten Zustim­mungs­re­ge­lung ein Online-Regis­ter vor, das die Zustim­mung oder Ableh­nung einer Organ- und Gewe­be­spen­de doku­men­tiert. Die­ses elek­tro­ni­sche Ver­zeich­nis ist erst ab 18. März 2024 einsatzbereit.

Beschnei­dung der im BGB ver­an­ker­ten Patientenautonomie

Wäre der erneu­te Ver­such, im Deut­schen Bun­des­tag eine Mehr­heit für die Wider­spruchs­lö­sung zu gewin­nen, von Erfolg gekrönt, dürf­te jeder Bun­des­bür­ger auto­ma­tisch zum poten­zi­el­len Organ­spen­der gemacht und einer Organ­ent­nah­me unter­zo­gen wer­den – es sei denn, er hät­te vor­her wider­spro­chen. Eine sol­che Rege­lung steht nicht in Ein­klang mit den im BGB ver­an­ker­ten, medi­zin­recht­li­chen Bestim­mun­gen zur Behand­lungs­ein­wil­li­gung und käme einer fun­da­men­ta­len Ent­rech­tung aller ster­ben­den Inten­siv­pa­ti­en­ten mit einer schwe­ren Hirn­schä­di­gung gleich.

Aus­wir­kun­gen auf Pati­en­ten­rech­te und pal­lia­tiv­me­di­zi­ni­sche Sterbebegleitung

Die Wider­spruchs­re­ge­lung wür­de die Grund­sät­ze der ärzt­li­chen Ster­be­be­glei­tung und Pal­lia­tiv­me­di­zin außer Kraft set­zen und inva­si­ve Maß­nah­men wie Reani­ma­ti­on oder Ope­ra­tio­nen bei allen poten­zi­el­len Organ­spen­dern im Rah­men der sog. spen­de­zen­tier­ten, organ­pro­tek­ti­ven The­ra­pie allein zuguns­ten Drit­ter ohne Ein­wil­li­gung der Pati­en­ten erlau­ben. Die erwei­ter­te Zustim­mungs­lö­sung hin­ge­gen sieht eine ethisch, recht­lich und medi­zi­nisch gerecht­fer­tig­te spen­de­zen­trier­te Behand­lung (Ent­schei­dungs­hil­fe DIVI) nur auf Basis des Pati­en­ten­wil­lens vor, zumal sich der Ster­be­pro­zess eines Organ­spen­ders gänz­lich anders gestal­tet als der eines pal­lia­tiv betreu­ten Men­schen – auch für sei­ne Angehörigen.

Eine hohe Organ­spen­de­be­reit­schaft, aber gro­ße Unwis­sen­heit über die fremd­nüt­zi­ge Inten­siv­the­ra­pie von Organspendern

Der Bun­des­rat hält die Ein­füh­rung der Wider­spruchs­lö­sung trotz ihrer Unver­ein­bar­keit mit der Pati­en­ten­au­to­no­mie für legi­tim, basie­rend auf einer ver­meint­lich über­wie­gend posi­ti­ven Ein­stel­lung zur Organ­spen­de in der Bevöl­ke­rung. Es zeigt sich jedoch, dass die hohe Organ­spen­de­be­reit­schaft auf Infor­ma­ti­ons­lü­cken beruht, da vie­le Men­schen den Unter­schied zwi­schen Tod und Hirn­tod nicht genau ken­nen. Ein Indiz: Reani­ma­tio­nen eines im Ster­ben begrif­fe­nen Men­schen wer­den mehr­heit­lich abge­lehnt (Stu­die). Bei einer Ein­ver­ständ­nis­er­klä­rung zur Organ­spen­de kön­nen aber Wie­der­be­le­bungs­maß­nah­men für den Zweck der Organ­ent­nah­me durch­aus statt­fin­den. Der offen­sicht­li­che Wider­spruch ist nicht ver­wun­der­lich, denn in den Auf­klä­rungs­un­ter­la­gen der Bun­des­zen­tra­le für gesund­heit­li­che Auf­klä­rung fin­det sich kei­ne aus­führ­li­che Erklä­rung über die bei jedem Organ­spen­der anzu­wen­den­de, lebens­ver­län­gern­de spen­de­zen­trier­te Intensivtherapie.

Auch beim Gesetz­ge­ber Wis­sens­lü­cken: Der Organ­spen­de­pro­zess beginnt VOR und nicht NACH dem Hirn­tod – 2021 Not­wen­dig­keit zur Ände­rung des TPG

Die seit Lan­gem in der Fach­li­te­ra­tur bemän­gel­te all­ge­mei­ne Unwis­sen­heit über das organ­pro­tek­ti­ve Behand­lungs­kon­zept scheint selbst im deut­schen Par­la­ment weit ver­brei­tet zu sein. Denn die Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­ten ver­ab­schie­de­ten 2020 ein Trans­plan­ta­tions­ge­setz, das die Spen­der­re­kru­tie­rung undurch­führ­bar mach­te. Es gewähr­te den Ein­blick in das Organ­spen­de­re­gis­ter erst nach der Hirn­tod­fest­stel­lung. Die spen­de­zen­trier­te Inten­siv­the­ra­pie ist aber vor Ein­tritt des (Hirn-)Todes zu ent­schei­den. Daher wur­de der Gesetz­ge­ber von der Deut­schen Inter­dis­zi­pli­nä­ren Ver­ei­ni­gung für Inten­siv- und Not­fall­me­di­zin (DIVI) auf­ge­for­dert, zügig eine Novel­lie­rung vor­zu­neh­men: Die Ein­sicht­nah­me in das Organ- und Gewe­be­spen­de­re­gis­ter müs­se vor dem Hirn­tod erlaubt werden.

Die gesetz­lich vor­ge­schrie­be­ne Tren­nung von Inten­siv- und Trans­plan­ta­ti­ons­me­di­zin gilt nicht mehr

Prompt erfolg­te 2021 die von der DIVI ver­lang­te Ände­rung des Trans­plan­ta­ti­ons­ge­set­zes: Der Ein­blick des medi­zi­ni­schen Per­so­nals in das Regis­ter wur­de vor der Hirn­tod­fest­stel­lung gestat­tet (§ 2a Abs. 4 S. 2 Nr. 2 TPG-2021) — ent­we­der um eine pal­lia­tiv­me­di­zi­ni­sche Ster­be­be­glei­tung ein­zu­lei­ten — oder es muss auf­grund einer erklär­ten Organ­spen­de­be­reit­schaft die spen­de­zen­trier­te Inten­siv­the­ra­pie vor dem Hirn­tod begon­nen wer­den. Zudem gilt die Aus­kunfts­pflicht gegen­über den an der Trans­plan­ta­ti­on betei­lig­ten Ärz­ten bereits bei erwar­te­tem Hirn­tod, also noch im leben­den Zustand der betref­fen­den Pati­en­ten (§ 7 Abs. 3 S. 3 TPG-2021). Bis dahin waren Inten­siv­ärz­te erst nach der Hirn­tod­fest­stel­lung gegen­über dem trans­plan­ta­ti­ons­me­di­zi­ni­schen Per­so­nal aus­kunfts­pflich­tig (§ 7 Abs. 1 S. 4 TPG-1997).

Mit die­ser Ände­rung gab der Gesetz­ge­ber einen zen­tra­len Grund­satz auf: die strik­te Tren­nung zwischen

  • der aus­schließ­lich zum Wohl der ein­zel­nen Pati­en­ten durch­ge­führ­ten Behand­lung durch das Inten­siv­per­so­nal in der jewei­li­gen Klinik
  • und der von Fremd­in­ter­es­sen gelei­te­ten trans­plan­ta­ti­ons­me­di­zi­ni­schen Organ­ge­win­nung durch von außen kom­men­de Ärzte.

Wider­spruchs­lö­sung und das „The­ra­pie­ziel Hirn­tod“: Pati­en­ten­rech­te wären zunich­te gemacht

Unter einer Wider­spruchs­re­ge­lung hät­te die geän­der­te Aus­kunfts­pflicht weit­rei­chen­de Kon­se­quen­zen: Die Pati­en­ten­rech­te von hirn­ge­schä­dig­ten, tod­ge­weih­ten Inten­siv­pa­ti­en­ten wären zunich­te gemacht, da der Organ­spen­de­pro­zess nicht – wie immer behaup­tet – „nach dem Tod“ beginnt. Der Hirn­tod als Vor­aus­set­zung für die Organ­ent­nah­me wäre per Gesetz bei Men­schen, die z.B. einen Schlag­an­fall, eine Hirn­blu­tung, einen Ver­kehrs- oder Sport­un­fall erlit­ten haben, abzu­war­ten und die lebens­ver­län­gern­de, spen­de­zen­trier­te Inten­siv­the­ra­pie mit dem „The­ra­pie­ziel Hirn­tod“ anzu­wen­den. „Schon nach Fest­stel­lung des Hirn­tods ist die […] Herz­druck­mas­sa­ge im Fal­le eines Aus­set­zens des Herz­schla­ges zum Zwe­cke der Organ­er­hal­tung für vie­le eine abschre­cken­de Vor­stel­lung. Soll sol­ches bei poten­ti­el­len Spen­dern, das heißt Ster­ben­den, […] gar ver­pflich­tend sein […]?“, fragt der Inter­nist und Chef­arzt Prof. Dr. Ste­phan Sahm in der FAZ.

Die Spen­der­ka­te­go­rie der Non Heart Bea­ting Donors: in Deutsch­land als Tötung verworfen

Der Bun­des­rat begrün­det die gefor­der­te Neu­re­ge­lung vor allem damit, dass die Wider­spruchs­lö­sung in allen euro­päi­schen Staa­ten „mit einem hohem Organ­spen­de­auf­kom­men“ die gesetz­li­che Grund­la­ge bil­det. Die­se Her­lei­tung höhe­rer Spen­der­zah­len unter­schlägt eine ent­schei­den­de Tat­sa­che: Spe­zi­ell in den als vor­bild­lich gel­ten­den Län­dern wie z.B. Spa­ni­en, Bel­gi­en oder den Nie­der­lan­den beruht ein erheb­li­cher Teil der Organ­ent­nah­men nicht auf den in Deutsch­land von der Bun­des­ärz­te­kam­mer auf­ge­stell­ten Hirn­tod­kri­te­ri­en. Denn in die­sen Staa­ten wur­de neben der ‚Organ­spen­de nach Hirn­tod‘ eine wei­te­re Spen­der­ka­te­go­rie ein­ge­führt: die sog. Non Heart Bea­ting Donors (NHBD: Organ­spen­der ohne schla­gen­de Her­zen; aktu­el­ler Begriff: Dona­ti­on after cir­cu­la­to­ry death: DCD).

Dabei han­delt es sich um Pati­en­ten, deren Leben nicht mehr nur auf­grund einer schwe­ren Hirn­schä­di­gung ver­lo­ren ist. Weil das Hirn­tod­kri­te­ri­um bei NHBDs auf­ge­ge­ben wur­de, kön­nen allein durch die­sen Spen­der­kreis die Organ­res­sour­cen beacht­lich ver­mehrt wer­den. Bei einem gro­ßen Teil der DCD-Mul­ti­or­gan­spen­der (Maas­tricht Kate­go­rie III) wird im Rah­men eines Behand­lungs­ab­bruchs ein ‚kon­trol­lier­ter Herz­still­stand‘ her­ge­stellt. Die­se Metho­de hat in Deutsch­land die Zen­tra­le Ethik­kom­mis­si­on als Tötung ethisch ver­wor­fen. Auch das Bun­des­mi­nis­te­ri­um für Gesund­heit erklär­te die NHBD-Spen­de zu einem abzu­leh­nen­den Ver­fah­ren (Bun­des­tags­druck­sa­che 16/13740 S. 128). Eben­so miss­bil­lig­te der Deut­sche Ethik­rat mehr­heit­lich die Erwei­te­rung der Organ­ge­win­nung um Non Heart Bea­ting Donors.

Jus­ti­fied kil­ling“ zur Ver­rin­ge­rung des welt­wei­ten Organmangels

Im Zuge der inter­na­tio­na­len Debat­te um die ethi­sche Pro­ble­ma­tik die­ser Spen­der­ka­te­go­rie plä­dier­ten hin­ge­gen die renom­mier­ten ame­ri­ka­ni­schen Bio­ethi­ker Robert D. Truog und Frank­lin G. Mil­ler für die Abschaf­fung der ‚Tote-Spen­der-Regel‘, die den Tod von Pati­en­ten zur Vor­aus­set­zung für Organ­ent­nah­men macht. Sie spre­chen unver­blümt von einem „jus­ti­fied kil­ling“ (S. 42) – dem „gerecht­fer­tig­ten Töten“, um dadurch den welt­weit herr­schen­den ‚Organ­man­gel‘ zu mindern.

In Spa­ni­en, aber auch in den Euro­trans­plant-Ver­bund­län­dern Bel­gi­en, Öster­reich und den Nie­der­lan­den, wird die NHBD-Organ­ge­win­nung prak­ti­ziert. Sie trägt seit Jah­ren zur Stei­ge­rung der Spen­der­zah­len bei (S. 13, Tabel­le 2.4.3.). In Bel­gi­en und den Nie­der­lan­den konn­te die Spen­der­quo­te durch die Kom­bi­na­ti­on der Dona­ti­on after cir­cu­la­to­ry death mit der dort gesetz­lich lega­li­sier­ten akti­ven Ster­be­hil­fe (‚Eutha­na­sie‘) zusätz­lich erhöht wer­den. Z.B. über­traf 2022 in den Nie­der­lan­den der Anteil der DCD-Spen­der mit 57,89 Pro­zent den Pro­zent­satz der bei uns nur zuläs­si­gen Organ­ent­nah­men von sog. Heart Bea­ting Donors (‚Organ­spen­der mit schla­gen­den Her­zen‘ nach Hirn­tod) (Euro­trans­plant Annu­al Report, S. 3).

Wider­spruchs­lö­sung in Deutsch­land, um auch bei uns das DCD-Spen­der­po­ten­zi­al auszuschöpfen?

Soll­te der deut­sche Gesetz­ge­ber eine Maxi­mie­rung der Organ­spen­der­zah­len um jeden Preis beab­sich­ti­gen und die Wider­spruchs­lö­sung womög­lich auch unter dem Aspekt eines in Deutsch­land zusätz­lich ‚aus­schöpf­ba­ren‘ DCD-Spen­der­po­ten­zi­als ein­füh­ren wol­len, gin­ge damit eine Aus­he­be­lung unse­rer pal­lia­tiv­me­di­zi­ni­schen Kul­tur und der im BGB garan­tier­ten Pati­en­ten­au­to­no­mie einher.

Ster­ben­de Pati­en­ten mit einer schwe­ren Hirn­schä­di­gung wären auf Grund­la­ge der Wider­spruchs­re­ge­lung poten­zi­ell ent­mün­digt und Inten­siv­me­di­zi­ner gegen das Gen­fer Gelöb­nis gesetz­lich ver­pflich­tet, das Wohl der ihnen anver­trau­ten, ster­ben­den Pati­en­ten ohne deren Ein­wil­li­gung hintanzustellen.

Der vom Bun­des­rat aus­ge­hen­de Ver­such, eine neue Mehr­heit gegen die am 1. März 2022 in Kraft getre­te­ne erwei­te­re Zustim­mungs­lö­sung gewin­nen zu wol­len, ist nicht akzep­ta­bel. Wir appel­lie­ren an alle ver­ant­wort­li­chen Poli­ti­ke­rin­nen und Poli­ti­ker, die Pati­en­ten­rech­te eines im Ster­ben begrif­fe­nen, inten­siv­me­di­zi­nisch behan­del­ten Men­schen mit einer schwe­ren Hirn­schä­di­gung zu wah­ren und auch sei­ne Ange­hö­ri­gen sowie das behan­deln­de Inten­siv­per­so­nal im Blick zu behal­ten. Der Gesetz­ge­ber soll­te sich gegen die Instru­men­ta­li­sie­rung des Staa­tes qua­si als Organ­be­schaf­fer verwehren.

Die Medi­en möch­ten wir auf­for­dern, über die jüngsten Refor­men der Trans­plan­ta­ti­ons­ge­setz­ge­bung (2021) zu berich­ten. Die Öffent­lich­keit muss über das recht­li­che Span­nungs­feld zwi­schen einer Pati­en­ten­ver­fü­gung und der mit einer Organ­spen­de­er­klä­rung ver­bun­de­nen, vor dem Hirn­tod ein­set­zen­den spen­de­zen­trier­ten Inten­siv­the­ra­pie umfang­reich auf­ge­klärt wer­den, um eine infor­mier­te Ent­schei­dung für oder gegen eine Organ­spen­de tref­fen zu können.

Zur aus­führ­li­chen Dar­stel­lung der genann­ten Gesetzesänderungen:

Zur spen­de­zen­trier­ten Intensivtherapie: