Zum Anlass meiner Briefe an den Transplantationsmediziner Prof. Eckhard Nagel
Beim Autofahren höre ich gelegentlich Radio. So auch am 15. 06. 2022. Ich hatte WDR 5 eingeschaltet und hörte mit Interesse, dass es um eine Sendung über den Wert der Sterbebegleitung bis zuletzt ging.
Ich staunte und freute mich zugleich über die Sendung und die Antworten des Interviewten, der u.a. vom Wert seiner persönlichen Erfahrungen bei der Sterbebegleitung Angehöriger mit einfühlsamer Stimme berichtete.
Er beklagte u.a. den Verlust von Ritualen und meinte, dass man den Tod wieder ins Leben holen und sich mit dem Sterben auseinandersetzen müsse. Als der Satz fiel: “Sie als Transplantationsmediziner…“ wurde mir klar, dass es sich um Prof. Eckhard Nagel handelt.
Ich geriet augenblicklich in große Erregung, musste am Straßenrand parken, war unfähig weiter zu fahren. Zum Verständnis meiner Erregung möchte ich erwähnen, dass ich von der Organentnahme beim Sterben meines Sohnes betroffen bin.
Mehr zur Organentnahme bei meinem Sohn
Ein Transplantationsmediziner, der eine Medizin vertritt, die in den Sterbeprozess eines Menschen brutal eingreift, um diesen später aktiv zu beenden, eine Medizin, die eine palliative Begleitung bis zum Schluss unmöglich macht, die eng verbundene Menschen im schlimmsten Augenblick ihres Lebens trennt – und dann diese Ausführungen von Prof. Nagel zum Wert der Sterbebegleitung bis zuletzt! Ich war fassungslos. Genau diese Begleitung wird den Angehörigen genommen und damit der Trost, der darin liegt, einen geliebten Menschen im Sterben treu geblieben zu sein. Wie kann ein Mensch das eine tun und vertreten und das andere sagen? Welch eine Heuchelei, fuhr es mir durch Kopf und Herz!
Anlass dieses Interviews mit Prof. Nagel war die Erscheinung des Buches „Der Tod ist mir nicht unvertraut“, das er zusammen mit Frau Büdenbender, der Gattin des Bundespräsidenten Walter Steinmeier, geschrieben hat. Das Buch ist als Dialog der beiden Autoren geschrieben zu verschiedenen Themen, die um das Sterben kreisen. Da gibt es Sätze von Herrn Prof. Nagel, in denen er schildert, dass er Angehörige ermutigt, bei ihrem Sterbenden zu bleiben, um Abschied zu nehmen.
„Niemand sollte allein gehen müssen“, heißt es da.
Oder an anderer Stelle wörtlich:
Als Transplantationsmediziner behauptet Prof. Nagel, dass Organentnahme nach dem Tod stattfände. Dass es sich dabei um einen „Tod“ handelt, bei dem der Patient beatmet, intensivmedizinisch behandelt, gepflegt und notfalls reanimiert wird, und diese wertvollen Erfahrungen, wie er sie beschreibt, gar nicht möglich sind, dazu findet sich kein Wort. In der Realität werden die Angehörigen aufgefordert, sich von diesem angeblich Toten zu verabschieden. Weder die kostbare Begleitung bis zuletzt noch das Wahrnehmen des eingetretenen Todes sind in dieser Situation möglich.
Wörtlich heißt es an anderer Stelle:
„Es gibt Menschen, die den Hirntod nicht als Tod des Menschen akzeptieren“. …um fortzufahren: „Wenn mir an irgendeiner Stelle glaubhaft nachgewiesen werden kann, dass unser Hirntodverständnis nicht tatsächlich das Ende der individuellen Existenz bedeutet, hören wir sofort auf mit der Organentnahme“.
Eckhard Nagel, Transplantationsmediziner, in
„Der Tod ist mir nicht unvertraut“ 2022
Prof. Nagel setzt den Tod, dessen Begreifen ihm so wichtig ist, ganz beiläufig dem „Ende der individuellen Existenz“ gleich und verschleiert den gravierenden Unterschied zwischen beiden. Bereits im Jahr 2008 hat in USA der President`s Council on Bioethics festgestellt, dass der Hirntod naturwissenschaftlich nicht mit dem Tod gleichzusetzen sei. Wieviel Leid in Angehörigenfamilien, in denen kein Ausweis vorlag und deren Schockzustand schamlos ausgenutzt wurde, hat dieser Mensch als Vertreter der Transplantatiosmedizin mit zu verantworten!
Ich habe mir im Schockzustand alles nehmen lassen, unfähig zu erkennen und zu handeln, ausgeliefert den Ärzten. Lange habe ich mich damit gequält, wie es überhaupt möglich sein konnte, mich aus dem Sterbezimmer meines Sohnes zu entfernen, obwohl ich wahrnahm, dass er nicht tot war, obwohl ich den Wert der Sterbebegleitung im Familienkreis bereits erfahren hatte. Mein Mann und ich lebten danach mit großen Versagensgefühlen, unser Kind verlassen und einer barbarischen Operation ausgeliefert zu haben, an dessen Ende der Tod aktiv herbeigeführt wurde. Das hatte schlimme Folgen für die ganze Familie. Es ist für mich schwer zu ertragen, dass dieses Buch zu einem wichtigen Thema vom Transplantationsmediziner Prof. Eckhard Nagel geschrieben wurde, und dass eben dieser Mensch auf einem Podium sitzt wie kürzlich in Hamburg-Bergedorf im Körber-Haus, das den Titel „Über das eigene Ende sprechen“ hat.
Brief im Namen von KAO an Prof. Eckhard Nagel vom 20.07.2022
Sehr geehrter Herr Prof. Nagel,
durch eine Radiosendung wurde ich auf Ihr Buch, „Der Tod ist mir nicht unvertraut“ aufmerksam, das Sie zusammen mit Frau Büdenbender geschrieben haben. Sie schildern darin berührende Erlebnisse beim Sterben Ihrer Angehörigen. Wichtig ist Ihnen dabei, den Wert der Sterbebegleitung eines Familienangehörigen bzw. einer Bezugsperson im Privaten wie im Krankenhausbereich wieder ins Bewusstsein der Gesellschaft zu bringen, und damit auch unsere eigene Sterblichkeit.
Das alles kann ich unbedingt bejahen, habe ich doch selbst den großen Wert der Sterbebegleitung bei Familienangehörigen erlebt. Besonders wichtig und hilfreich war mir die Begleitung bei meinem mit 52 Jahren verstorbenen, sehr geliebten Bruder. Ich konnte ihm nahe sein bis zuletzt, ihm auch zusichern, ihn nicht zu verlassen, und ihm die letzten Liebesdienste erweisen. Weil ich auch genügend Zeit nach seinem Versterben bei ihm verbringen konnte, nahm ich seinen sich inzwischen eingestellten friedvollen Gesichtsausdruck wahr, der mir wie eine wunderbare Botschaft erschien. Das hat mich in der Trauer um ihn getröstet, sie erträglicher gemacht.
Zwei Jahre nach diesem Erlebnis verunglückte mein 15-jähriger Sohn Lorenz. Durch die Medizin, die Sie als Transplantationsmediziner vertreten und ausführen, wurde mir, meinem Mann und meinen Kindern alles genommen (s.o.), womit wir hätten weiterleben und schließlich Frieden schließen können. Stattdessen liefen wir vor unserem entstellten Sohn nach der Organentnahme ohne Abschied in Panik davon, nachdem wir zuvor darauf bestanden hatten ihn nochmal zusehen.
Die Schocksituation, in der wir uns nach der schlimmsten Nachricht unseres Lebens befanden, als man uns mitteilte, unser Kind sei schwer verletzt und Stunden später, dass es tot sei, spielte keine Rolle für die betreffenden Ärzte. Ihr Blick sah nicht mehr den Menschen Lorenz, sondern das in einen schwer ohne äußere Anzeichen verletzten Kopf und einen Restkörper aufgeteilte Etwas, aus dem man Organe „ernten“ möchte.
(Ich wäre Ihnen sehr dankbar, würden Sie dazu meinen Bericht im beiliegenden Heft lesen).
Wo blieb die „Fürsorge, aus der niemand herausfallen sollte“, so Ihre Mitautorin Frau Büdenbender, für uns Eltern und unser Kind? Stattdessen wurde unsere Schocksituation schamlos ausgenutzt – ein Leichtes für die Ärzte. In unserem seelischen Zusammenbruch bekamen wir ganz subtil Schuld am Tod anderer aufgebürdet, wenn wir nicht in eine Organ“spende“ einwilligen würden. Das steht im Raum, Herr Prof. Nagel, nachdem uns Jahrzehnte gepredigt wurde, dass jeden Tag drei Menschen wegen mangelnder Organe sterben müssten. Das Wort Spende und das Wort Schock scheint im eigentlichen Wortsinn Transplantationsmedizinern unbekannt zu sein!
„Die schlimmste Frage zum schlimmsten Zeitpunkt“, sagen Ihre Kollegen an dieser Stelle. Ein Eingeständnis von Schuld vielleicht, das Sie und Ihre Kollegen nicht daran hindert, sie zu stellen. Der Respekt vor der Leidsituation der Betroffenen in dieser Situation hat keinen Wert. Es sind überwiegend keine gespendeten Organe im Wortsinn, sondern durch Überrumplung erschlichene. Ich frage Sie als Christ, kann darauf Segen ruhen? Dieses Problem ist sicher für Empfänger eines Organes sehr belastend, weshalb man uns vermutlich nicht hören möchte oder auch desavouiert.
Wie können Sie Ihre Tätigkeit als Transplantationsmediziner vereinbaren mit dem, was Sie in Ihrem Buch so schön ausdrücken, nämlich den Menschen zu begleiten „bis in die äußersten Winkel und Nischen seiner Existenz“? An anderer Stelle weisen Sie darauf hin, wie wichtig es sei, den Menschen als Verstorbenen wahrzunehmen, es sei ein großer Unterschied die Hand auf einen verstorbenen oder einen lebenden Menschen zu legen. Sehr richtig heißt es weiter, dass es hilft, das Geschehen auch innerlich zu akzeptieren – „gerade bei einem unerwarteten Tod“. Uns wurde wie allen in dieser Situation auch diese Erfahrung geraubt.
Wir wurden aus dem Sterbezimmer unseres Sohnes hinausmanipuliert. Tot sei er – trotz Infusion, vollem Urinbeutel, dem Bein, das sich gerade noch bewegt hatte. Zitat aus den Unterlagen: „Die Eltern sahen dann den Körper des verstorbenen Patienten, der aber weiterhin beatmet wurde bei spontaner Herzfrequenz… Es scheint, dass die Eltern nicht verstanden, dass, als sie ihren Sohn gesehen haben, dieser bereits tot war“. Wir sahen allerdings weiter unser Kind und es schaudert mich bis heute, wenn ich daran denke, wie sich der Blick eines Arztes auf einen Menschen verändern kann, den er nicht mehr als Mensch wahrnimmt, sondern ihn auf den Körper mit den wichtigen Organen reduziert, deren er habhaft werden will.
Bei meinem Sohn Lorenz heißt es in den Unterlagen „Herbeiführung des Herzstillstandes durch…..“ Was ist das anderes als Töten, sehr geehrter Herr Prof. Nagel? Es handelt sich jedoch um einen Menschen, der – sollte die Diagnose zutreffend sein, – sterben wird, aber dem man die von Ihnen geforderte Begleitung bis zuletzt verweigert, um ihn auf den OP-Tisch zu bringen.
Ich bezeuge, dass mein Kind zu dem Zeitpunkt lebte. Und ich bin zutiefst erschrocken, dass Sie mit Ihrem Anspruch als Christ, der der Wahrheit verpflichtet ist, den sog. Hirntod als Tod akzeptieren, obwohl der Mensch in diesem Zustand zu 95 % lebt, so Prof. Geisler. Der Hirntod entbehrt jeglicher wissenschaftlicher Grundlage, was Ihnen bekannt sein dürfte.
Meinem Sohn ist in seinem Sterben Schlimmes widerfahren, so wie es allen geht, die ohne ausdrückliche, umfassende Aufklärung und ohne Selbstbestimmung zu Organ“spendern“ gemacht werden. Und das in unserer Zeit, wo das Selbstbestimmungsrecht einen so hohen Stellenwert hat.
Nicht ohne Grund haben mein Mann (Jurist) und ich KAO (Kritische Aufklärung über Organtransplantation) ins Leben gerufen. Daraus wurde sehr bald der Verein, an den sich bis heute viele betroffene Angehörige in ihrer Not wenden.
Auch wir möchten, dass schwer organerkrankten Menschen geholfen wird, aber nicht mit einer so unbarmherzigen Medizin, die auf der verschwiegenen Seite der Transplantationsmedizin zusätzlich großes Leid erzeugt. Ich bitte Sie inständig, setzten Sie sich für eine Organspende ein, die dem Wort gerecht wird, und verhindern Sie das Ausnutzen zweier wehrloser Menschengruppen, der Sterbenden, die sich nicht mehr äußern können, und der sich in der Regel im Schock befindenden Angehörigen.
Mit freundlichem Gruß
Gisela Meier zu Biesen
Antwort auf den Antwortbrief von Prof. Eckhard Nagel vom 20.10.2022
Sehr geehrter Herr Prof. Nagel,
ich komme erst heute dazu auf Ihren Brief vom 13. 09. 22 zu antworten. Zunächst möchte ich Ihnen danken, dass Sie sich die Zeit genommen haben mir zu antworten.
Allerdings war ich sehr verwundert über Ihre Antwort. Auf meine zentrale Frage, wie Sie den Wert einer Sterbebegleitung bis zuletzt mit Ihrem Einsatz für die Transplantationsmedizin vereinbaren können, gehen Sie mit keinem Wort ein.
Davon abgesehen, dass Ihre Strategie, auf mein Anliegen gar nicht einzugehen, respektlos ist, schaffen Sie stattdessen zunächst eine Vertrautheit, die es so nicht gibt (ich bin Ihnen vor etlichen Jahren nur einmal persönlich bei einer Veranstaltung in Osnabrück begegnet), um dann über Selbstverständlichkeiten wie die, dass Sie eine grundsätzlich andere Einstellung zur Organtransplantation haben, zum Angriff überzugehen.
Wieso kann Aufklärung verletzend sein? Wir von der „Initiative Kritische Aufklärung über Organtransplantation“ sagen das, was wir persönlich beim Sterben unserer Kinder im Umgang mit der Transplantation erfahren und erkannt haben. Diese Dinge verschweigen Sie leider und suggerieren einer ganzen Bevölkerung, dass es sich bei der Organentnahme um den Tod (siehe Ausweis!) handelt, den wir kennen und eindeutig wahrnehmen können. Unsere Berichte müssen den Transplantationsmedizinern natürlich unangenehm und unwillkommen sein. Weiter erwähnen Sie Ihren Einsatz für die Zustimmungslösung: Tatsache aber ist, dass letztlich bis heute auch die Angehörigen vor die Entscheidung gestellt werden, was in acht von zehn Fällen gegeben ist und ungeachtet der Tatsache, dass diese sich in der Regel im Schockzustand befinden, geschieht.
Daher ist es entlarvend, dass Sie meiner Frage nach dem 2 Arten von Tod durch Explantation und dem behüteten Sterben ausgewichen sind. Sie haben den Unterschied in Ihrem Buch vernebelt und konnten deshalb auch auf meine Anfrage nicht eingehen. Stattdessen versuchen Sie mit Vorwürfen abzulenken.
Auch mir, wie Ihnen, geht das Leid organgeschädigter Menschen sehr nahe, auch ich möchte, dass Ihnen geholfen werden kann. Jedoch ist ein Organ kein Medikament, sondern dahinter steht eine ebenso leidvolle Geschichte, die es zu respektieren und nicht abzuwägen gilt. Die Zeit der Menschenopfer ist lange vorbei. Es kann nur eine Spende im wahrsten Sinn des Wortes geben.
Sie werfen mir mangelnden Respekt gegenüber transplantierten Menschen vor. Aber Sie kennen meine Vorträge überhaupt nicht. Woher nehmen Sie dieses Urteil? Meine Kritik gilt ausschließlich den Transplantationsmedizinern und nicht den betroffenen Patienten, die ich vor dem, was ich zu sage habe, schützen möchte.
Sehr geehrter Herr Prof. Nagel, wenn Ihnen die Anteilnahme an meiner Leidensgeschichte und der vieler anderer Menschen tatsächlich ernst ist, bitte ich Sie dringend, sich für eine enge Zustimmungslösung mit einer vorausgehenden umfassenden Aufklärung noch heute einzusetzen.
Ich bin sehr mit Ihrem letzten Satz einverstanden und hoffe auf den bisher schmerzlich vermissten Respekt vor uns Angehörigen.
Mit freundlichem Gruß
Gisela Meier zu Biesen