Dieser Vortrag wurde von der 1. Vorsitzenden von KAO, Renate Greinert, am 22.10.2022 in Schwäbisch Gmünd auf dem Kongress „Leben . Würde“ gehalten. Der Vortrag erklärt die Entwicklung der Transplantationsmedizin von 1967 – 2022.
Mein Name ist Renate Greinert. Ich bin Mitglied des gemeinnützigen Vereins „Kritische Aufklärung über Organtransplantation“, KAO. In diesem Verein haben sich Eltern zusammengeschlossen, die ein Kind zur Organspende freigegeben haben.
Völlig unaufgeklärt, in tiefem Schock, wurden wir von Medizinern in eine Situation manipuliert, in der es nicht mehr um das Sterben unseres Kindes ging, sondern um das Überleben anderer Kinder. Nach nur 2 ½ Stunden auf der Intensivstation wurde bei meinem Sohn eine Untersuchung durchgeführt, an deren Ende uns ein Arzt um 20.02 Uhr den Tod von Christian mitteilte. Den Akten konnte ich später entnehmen, dass da die erste Hirntoduntersuchung stattgefunden hatte. Von einer zweiten Untersuchung bemerkten wir nichts, sie ist auch nicht in den Akten zu finden, aber ein Stationsarzt und eine Krankenschwester, die für Christian zuständig waren, haben diese Untersuchung mit einer eidesstattlichen Erklärung dokumentiert. Zwischen 1. und 2. Hirntoddiagnostik sind Wartefristen einzuhalten, und man verkürzte die Wartezeit mit einem EEG. In Christians Akte existiert kein EEG, stattdessen ein schnellaufgezeichnetes EKG.
Wir hatten den Tod unseres Kindes nicht ansatzweise begriffen, als man uns um eine Organspende bat. Als man mir noch suggerierte, mein Sohn sei doch sicher ein sozialer Mensch, fiel mir leider nicht ein, dass er im Alter von 15 ½ Jahren gerade in einer ganz unsozialen Phase war. Der Hinweis, dass andere Eltern genauso verzweifelt am Bett ihres Kindes säßen wie wir gerade, lenkte unseren Blick weg von unserem Kind. Unser Ja zur Organspende war ausschließlich ein Nein zu noch mehr Tod. Wir stimmten zu, in der Meinung, es ginge um eine Organspende, und keiner von uns begriff zu dem Zeitpunkt, dass wir unseren Sohn zur größten Operation seines Lebens zurückließen. Man entnahm ihm Herz, Leber, Nieren, Milz und die Augen, ja, man sägte sogar die Beckenkammknochen aus seinem Körper. Laut Akten hatten wir einer Multiorganentnahme zugestimmt.
Ich habe meinen Sohn am Tag seiner Beerdigung noch einmal gesehen. Jetzt war er richtig tot. Er war leichenblass, kalt wie Stein, seine Augen fehlten und ein Schnitt zog sich von seiner Kinnspitze bis tief in den Ausschnitt seines Hemdes. Da erst wurde mir bewusst, dass ich ein Kind im Krankenhaus zurückgelassen hatte, das beatmet wurde, warm war, behandelt wurde wie ein Lebender, dessen Geräte am Bett Kurven aufzeichneten, das immer noch Infusionen bekam und aus dessen Körper Flüssigkeit lief.
Diese beiden Bilder, das von meinem beatmeten Kind, das ich im Krankenhaus zurückgelassen hatte, und das von dem Kind, das ich auf dem Friedhof wiedertraf, konnte ich nicht begreifen, konnte ich nicht zur Deckung bringen. Tod war für mich bis dahin immer eindeutig. Jetzt gab es zwei Tode.
Was war das für ein Tod, den mein Sohn im Krankenhaus gestorben war?
Mein Mann und ich haben zusammen 6 Kinder, wir leben in Wolfsburg, der Autostadt. Die Sicherheit, dass mir nicht noch einmal die Frage nach einer Organspende gestellt würde, hatte ich nicht. Ich musste begreifen, wozu ich ja gesagt hatte.
Ich habe jahrelang nach Informationen im In- und Ausland gesucht und erfahre auch heute immer wieder Neues, da die Transplantationsmedizin sich kontinuierlich weiterentwickelt. An dieser Suche möchte ich Sie teilhaben lassen, damit es Ihnen nicht so ergeht, wie es uns betroffenen Eltern erging. Ein Ja zur Organspende ist nicht wie ein Staubsaugerkauf an der Haustür rückgängig zu machen. Mit den Konsequenzen werden Sie bis zu Ihrem Lebensende leben müssen.
Geht es um eine Organspende, geht es immer um den Hirntod!
Die Auseinandersetzungen um die Bedeutung des Hirntods im Sterbeprozess eines Menschen haben auch in der Wissenschaft zu erbitterten Grabenkämpfen geführt. Auf der einen Seite stehen die Transplantationschirurgen, Befürworter der Hirntoddefinition, die 1968 mit Hilfe einer pragmatischen Umbenennung des „irreversiblen Komas“ in „Hirntod“ die Grundlage zur Entnahme von vitalen Organen schufen. Diese Umdefinierung ist eine juristische Erfindung, um den irreversiblen Hirntod der Gesellschaft als „Tod“ zu verkaufen. Man nennt das im Englischen „legal fiction“. Eine rechtliche Fiktion[1] behandelt Umstände als rechtlich gegeben, obwohl sie in Wirklichkeit nicht vorhanden sind.
So wurden für die Transplantationsmedizin Organübertragungen möglich.
Auf der anderen Seite stehen die Kritiker des Hirntodes, die irreversibel hirntote Menschen nicht als tot ansehen, sondern als noch lebend. Denn diese Menschen haben einen eigenen Herzschlag, Blutkreislauf und intakte Organe, deren komplexe Funktionen und Interaktionen – von der Verdauung, Wundheilung und Immunabwehr bis zum Wachstum und zur Möglichkeit, eine Schwangerschaft über Wochen weiterzuführen ( siehe z.B. „Erlanger Baby“) – erhalten sind. Man kann und muß diese Patienten beatmen, damit sie nicht versterben. Eine Leiche aber kann man nicht beatmen, wie der Intensivmediziner Paolo Bavastro so trefflich erklärte: einen Toten könne man nur aufblasen. [2]
Gesundheitsministerium, Krankenkassen und Ärzte sind per Gesetz gehalten, die Gesellschaft umfassend aufzuklären. Sie verstehen jedoch ihren Auftrag einseitig, indem sie nur die Bedürfnisse des Empfängers thematisieren: sie werben für die Organspende mit dem Argument der Nächstenliebe, und sie versuchen mit dem Hinweis auf lange Wartelisten Druck auf die Gesellschaft aufzubauen.
Die Politik versucht, die unaufgeklärten Bürger zu einer Entscheidung zu drängen. Unbemerkt von der Gesellschaft verabschiedet sie Gesetze, z.B. das „Gesetz für bessere Zusammenarbeit und bessere Strukturen bei der Organspende“ (GZSO), das die Schlinge um die potentiellen Organspender enger und immer enger zieht und auch den Angehörigen immer mehr Rechte nimmt. Die Politik will die Widerspruchsregelung durchsetzen, was heißt, dass der, der nicht widersprochen hat, automatisch Organspender ist. Sie glaubt, das Recht dazu zu haben, weil bei Befragungen 84% der Gesellschaft für die Organspende sei. Aber warum sind so viele Menschen dafür? Die Fragestellung ist so geschickt formuliert, dass suggeriert wird, dass es so viel wahrscheinlicher sei, dass man ein Organ braucht, als dass einem seine Organe genommen werden. Außerdem lässt man die Menschen bewusst in dem Glauben, dass sie wahrhaft tot sind, wenn sie explantiert werden. Unter diesen Voraussetzungen und unter dem Ausblenden der möglichen Komplikationen für den Organempfänger sind viele Menschen für die Organspende. Die meisten von uns wollen gute und hilfsbereite Menschen sein.
Um sich eine fundierte Meinung zu bilden auf welcher Seite des Grabens man selber stehen möchte, ist es wichtig, umfassend Fakten zu sammeln, die man in sein ganzes Wissen, seine eigene Erfahrung und seine Kultur integrieren muss.
Die im Zusammenhang mit der Organspende immer wieder propagierte Nächstenliebe rüttelt an dem Grundpfeiler unseres Christentums. Es heißt dort nicht nur: Liebe deinen Nächsten sondern liebe deinen Nächsten wie dich selbst und Gott über alles. Nur in dieser Dreifachforderung, hat die Nächstenliebe Stabilität. Heben wir nicht auch Gebote auf, wie z.B. das erste Gebot: Ich bin der Herr dein Gott, du sollst nicht andere Götter haben neben mir, oder das 5. Gebot: Du sollst nicht töten, oder das 10. Gebot: Du sollst nicht begehren was deines Nächsten ist. Die Hierarchie der katholischen Kirche, die sonst den Standpunkt vertritt, Du kannst nicht Gutes tun, wenn Du einem anderen Mensch dadurch schadest, schweigt hier.
Immerhin hat die Evangelische Kirche Deutschland auf den vehementen Protest einzelner Theologen einen kleinen aber bedeutenden Schritt getan, indem sie nun nicht mehr davon spricht, dass Organspende ein Akt der christlichen Nächstenliebe ist sondern sein kann.
Wir haben auch eine jahrtausendealte Bestattungskultur. Der feierliche und tröstende Satz: Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub wird ausgehebelt, zugunsten, einer oberirdischen Wiederverwertung.
Hirntote Menschen gibt es, seit es die künstliche Beatmung gibt. Für die meisten Patienten ein Segen, denn mit der künstlichen Beatmung kann man einen schwer traumatisierten Menschen unterstützen, bis er sich so weit erholt hat, dass er wieder selbständig atmen kann. Beatmete Patienten sind ein Normalfall auf der Intensivstation. Und das Ziel ist, dass sie sich wieder erholen. Aber es gibt immer wieder Patienten, die trotz aller neuen technischen Errungenschaften und dem Können der Ärzte es nicht wieder schaffen, selbständig zu atmen.
Das aber sind Extremfälle der Intensivmedizin. Gefangen in ihrem Zustand, können sie auch heute nur in seltenen Fällen wieder ins Leben zurückgeholt werden. Aber dennoch gibt es sie.
Diese Extremfälle wurden bis 1968 als lebend angesehen, wurden versorgt und gepflegt wie jeder Intensivpatient, und es war bei Strafe verboten, die Geräte abzuschalten, die sie am Sterben hinderten.
Gleichzeitig zu dieser Situation entwickelte sich die Transplantationsmedizin. Sie konnte mehr als sie zunächst vom Gesetz her durfte, und kam an ihre Grenzen. Ein Mensch, gerade verstorben, dem man Organe entnahm, hatte schon so viele kleine Embolien in seinen Organen, dass die Organübertragungen zum Scheitern verurteilt waren. Man brauchte frischere Organe, lebende.
Da preschte der südafrikanische Chirurg, Christiaan Barnard vor und entnahm einem sterbenden Patienten die noch lebenden Organe.
Damit war der Rubikon überschritten.
Was im fernen Südafrika möglich war, galt zunächst aber nicht für die restliche Welt. Die Transplantationsmediziner fieberten, es dem Südafrikaner gleichzutun zu dürfen.
Es gab keine neuen Erkenntnisse, keine neuen Fakten zu den irreversibel komatösen Patienten, aber es gab neue Bedürfnisse.
Unter Führung des Anästhesisten und Hirntodpioniers Henry Beecher, Leiter einer Hirntodkommission, gelang es amerikanischen Wissenschaftlern, diese beatmeten Extremfälle der Intensivmedizin als hirntot und damit als tot zu definieren, angeblich um die hohen Kosten zu senken, um Pflegepersonal und Angehörige von einer belastenden Situation zu befreien und Intensivbetten anderen Menschen zur Verfügung stellen zu können. Es ging der Transplantationsmedizin darum, den Hirntod als neuen Tod zu definieren und nicht als Kriterium, das Beatmungsgerät abzustellen und den Patienten in Ruhe sterben zu lassen. In Absatz 2 der Hirntoddefinition steht bereits, dass es sonst zu Problemen bei der Organbeschaffung kommen könnte.
Transplantationsmediziner waren die neuen Stars am Chirurgenhimmel, und die Gesellschaft wurde im Unklaren darüber gelassen, dass eine einfache Umdefinierung von Patienten an der Schwelle zwischen Leben und Tod von „irreversibel Komatösen“ zu „irreversibel Hirntoten“ die Transplantationsmedizin möglich machte
Bis heute haben sogar viele Mediziner und Politiker diesen Trick nicht durchschaut und werben deshalb eifrig für die Organentnahme.
Aber es gab von Anfang an ernstzunehmende Kritik von Menschen aller Berufsgruppen, herausragend auch noch heute die Kritik des Philosophen Hans Jonas, 1986 in Hamburg, in der Katholischen Akademie, Zitat: „Einer Berufsgruppe, die schon einmal fähig war aus anderen Menschen Seife zu machen, darf man die Definitionsgewalt über Leben und Tod nicht allein überlassen“. Hans Jonas war als Jude nach der Machtergreifung der Nazis 1933 aus Deutschland ausgewandert, seine Mutter jedoch wurde in Auschwitz ermordet. Hans Jonas machte sich auf der Intensivstation selbst ein Bild von den Patienten, die man für hirntot erklärte. Auf Grund seines eigenen Schicksals war er sensibel dafür, zu verstehen und zu durchschauen, was die pragmatische Umdefinierung des Todes in Hirntod für den Spender wie für die Gesellschaft bedeutete.[3]
Er wies darauf hin, dass die Gesellschaft sich gar nicht vorstellen könnte, was in der Transplantationsmedizin passierte, denn dort geschähe das Unvorstellbare.
Oder Prof Alan Shewmon, pädiatrischer Neurologe und Bioethiker, der als zunächst eifriger Befürworter des Hirntodkonzeptes die Erfahrung machen musste, dass ein von ihm als hirntot definierter dreijähriger Junge, eben keine Leiche war, sondern wuchs, verschiedene Krankheiten durchmachte, und auch noch in die Pubertät kam.
Alan Shewmon untersuchte daraufhin mehr als 170 Fälle von hirntoten Patienten und entwickelte sich vom Befürworter zu einem überzeugten, überzeugenden Kritiker des Hirntodkonzeptes.
Seit 1968 lassen sich die Transplantationsmediziner als Lebensretter von Patienten mit Organversagen feiern. Sie bezeichnen die Organübertragung inzwischen als Routineeingriff, obwohl sie das Hauptproblem, nicht in den Griff bekommt. Das Immunsystem des Spenders passt mit dem des Empfängers nicht zusammen, denn die Individualität jedes Menschen geht bis in seine letzte Körperzelle.
Es muss die Frage erlaubt sein, woher die Transplantationsmediziner die vielen Spender, die sie nun brauchte, hernehmen wollte? Es waren ja Extremfälle der Intensivmedizin, von denen es vielleicht 1 oder 2 Fälle pro Jahr auf einer Intensivstation gab.
Seit 1979 haben wir auch die Helm-und Anschnallpflicht, Unfallschwerpunkte werden minimiert, das heißt, die Zahl der klassischen Hirntoten mit schwerem Schädelhirntrauma reduzierten sich noch weiter. Auch hier wieder griff man zu einem einfachen Trick, man lockerte einfach die Kriterien für den Hirntod. Durfte 1968 ein als hirntot definierter Mensch keinen einzigen Reflex mehr haben, so wurde dieses Kriterium schon ein halbes Jahr später fallengelassen. Heute dürfen hirntote Männer 17, hirntote Frauen 14 Reflexe haben. Weltweit haben wir mehr als 30 verschiedene Hirntoddefinitionen. Für die Gesellschaft heißt das, sind Sie in einem Land als hirntot diagnostiziert, sind sie es in einem anderen Land noch lange nicht. Es ist nicht zu fassen, der einst eindeutige Tod ist abhängig von einer Definition.
Wer darf definieren? Die Mediziner, die Angehörigen, vielleicht die Kirchen?
Seitdem 2013 in Kalifornien Jahi McMath von mehreren Hirntodspezialisten als irreversibel hirntot definiert wurde, dennoch aber nach mehr als einem Jahr auf Aufforderung ihrer Mutter Hand und Fuß bewegte, droht das Gebäude vom irreversiblen Hirntod in sich zusammenzufallen.
2018 veranstaltete die Harvard Medical School of Bioethics einen internationalen Kongress zu Jahi McMath und zahlreichen anderen Fällen. Die Mediziner sprachen von der „Limbo Line“, der Latte, die in der Karibik beim Tanz zwar immer tiefer gelegt wird, beim Hirntod aber immer weiter ins Leben verschoben wird.
In den mehr als 50 Jahren der Organübertragung wurden also die Kriterien für den Hirntod immer weiter gelockert. Außerdem wurden Schlaganfallpatienten mit Hirnblutung und Herzstillstand zur Organspende herangezogen. Außerdem die vielen vielen Alten, die im Heim leben, die kurz, bevor sie versterben, nochmal ins Krankenhaus verlegt werden. Dort können sie einen kontrollierten Tod sterben. Sie liefern zwar nur marginale Organe, aber fremde Organe im eigenen Körper halten sowieso nicht jahrelang, sondern müssen immer ausgetauscht werden, es sei denn, der Empfänger verstirbt vorher.
Von Anbeginn der Organübertragung an musste geheim gehalten werde, dass Transplantationsmediziner und das begleitende Personal bei der Organentnahme genau wussten, dass sie es mit Patienten zu tun hatten, die erst durch die Entnahme ihrer Organe verstarben. Schon Ende der 80-er Jahre äußerte ein Transplantationsmediziner mir gegenüber: Wenn wir die Gesellschaft aufklären, bekommen wir keine Organe mehr.
Die Definition, Hirntod gleich Tod, und die Fragmentierung der Verantwortlichkeiten half Medizinern und Operationspersonal, diese schizophrene Situation zu meistern. Hirntote Patienten können sich bewegen, aufrichten oder gurgelnde Laute ausstoßen. Sie werden anästhesiert, bekommen muskelentspannende Medikamente. Anästhesisten, die am Hirntodkonzept zweifeln, geben vorsichtshalber eine Vollnarkose. Die DSO empfiehlt zur Optimierung der Entnahme Fentanyl, ein starkes Opioidanalgeticum. Manchmal versagt der Organismus des “Spenders“ noch vor der Entnahme seiner Organe. Dann wird er wiederbelebt. Wenn der Leib des Spenders mit Sägen geöffnet, die Körperhälften mit Zwingen auseinandergespreizt werden, fällt der Blick aller Beteiligten auf das schlagende Herz. Das irritiert selbst noch das anwesende Personal
Auf welcher Seite des Grabens stehe ich jetzt?
Immer noch wird der Patient die nächsten 6-8 Stunden beatmet, im Leben gehalten, solange bis alle benötigten Organe frei präpariert sind. Erst dann wird die Beatmung abgestellt. Verstirbt der Patient während der Organentnahme, muss er reanimiert werden. Leichen kann man nicht reanimieren Hirntote schon. Es geht überhaupt sehr dringlich zu, ist ein Patient für eine Organentnahme vorgesehen. Schon bei der Einlieferung in die Notaufnahme ist ein Transplantationsbeauftragter zur Stelle. Jetzt müssen schon die Weichen gestellt werden für eine optimale Organentnahme. Die Transplantationsmediziner führen immer an, dass potentielle Organspender optimal behandelt werden. Ja, das stimmt, aber sie werden optimal nicht für das eigene Leben versorgt, sondern bereits für die potentiellen Organempfänger behandelt. Sie bekommen nur noch Medikamente, die den Empfängern nicht schaden und solche, die einer Hirntoddiagnostik nicht im Wege stehen, wie z.B. Schmerzmittel und Beruhigungsmittel, die die Hirntoddiagnostik verfälschen können, die für den sterbenden Spender notwendig sind. Es können Untersuchungen für die späteren Empfänger notwendig sein, zum Beispiel ein Herzkatheter, eine Bronchoskopie oder eine Darmspiegelung, die für den im Sterben Liegenden nur noch Quälerei und Stress bedeuten. Auch die Diagnostik wird letzten Endes nur durchgeführt, weil eine Organentnahme geplant ist.
Die Hirntod Diagnostik ist international zunehmend Kritik ausgesetzt. Interessanterweise von einstigen Befürwortern. So erklärte kürzlich der Neurologe James L. Bernat, einer der führenden amerikanischen Befürworter des Hirntodkonzeptes, dass die Hirntoddiagnostik gar nicht untersuchen könne, was sie später bestätigte. Ariane Lewis, Neurochirurgin und Neurologin, schlägt eine Überarbeitung und Neufassung der Richtlinien zur Feststellung des Hirntodes vor. Sie plädiert dafür, dass das Zwischenhirn nicht mehr zum Hirn dazu gehört. Wenn das Zwischenhirn ausgegliedert wird, von dem all die komplizierten Prozesse gesteuert werden, die den Körper im Gleichgewicht halten, ist die Schaltstelle zwischen vegetativem Nervensystem und dem Hormonsystem nicht mehr relevant. Praktischerweise kann man dann Lebenszeichen des potentiellen Spenders ignorieren.
2018 in Harvard beim Kongress zum Hirntod sprach der Neurochirurg Greer von der sogenannten „slippery slope“: dem glitschigen Abhang, auf dem die Transplantationsmediziner sich befänden.
Vorbei an der Bevölkerung haben die Befürworter der Transplantationsmedizin jahrzehntelang in einem Elfenbeinturm diskutiert, nun haben sie Probleme, dass ihre Diskussionen und Tun öffentlich werden. 2018 wurde sehr deutlich, warum eine Organentnahme so schnell nach Feststellung des Hirntodes stattfinden muß. Die Mediziner haben Angst davor, dass die geforderte Irreversibilität des Hirntodes eines Patienten nicht von Dauer ist.
Die Zeitspanne, die man einen Hirntoten am Leben halten kann, behauptete die internationale Transplantationsmedizin, sei sehr kurz. 1968 aber reichte sie mit der gegenteiligen Begründung, dass diese Patienten jahrelang Kosten verursachten, Betten belegten und Angehörige wie Personal belasteten, dass diese Menschen in Tote, Hirntote umdefiniert wurden. Inzwischen geben die Amerikaner unter Führung des Anästhesisten und Präsidenten der Harvard Medical School, Prof. Robert Truog zu, dass das nicht stimme. Die Organentnahme nennt er justified killing, gerechtfertigtes Töten. Er fordert, die Gesellschaft müsse minutiös über den Hirntod aufgeklärt werden. Auf der einen Seite zwingend notwendig, andererseits aber auch ein weiterer Schritt in Richtung Fragmentierung von Verantwortlichkeiten. Ich sehe das als eine zweckgebundene Ehrlichkeit, vielleicht sogar noch einen weiteren Trick, die Verantwortung nun auch noch mit der Gesellschaft zu teilen.
In Deutschland herrscht eisiges Schweigen.
Es gibt auch heute keine neuen Erkenntnisse zum Leben oder Tod des Hirntoten. Der Graben zwischen den Befürwortern und den Kritikern des Hirntodes wird immer tiefer. In Deutschland gibt es immer wieder Versuche, Gesetzesänderungen an der Gesellschaft vorbei zu verabschieden.
Seit 1997 haben wir in Deutschland ein Transplantationsgesetz. Bis dahin arbeitete die TX im rechtsfreien Raum. Die Transplantationsmediziner wussten genau, wie wackelig ihre Position ist, für sie ging es darum, als Lebensretter ihrer Patienten dazustehen und nicht als diejenigen, die anderen zu diesem Zwecke das Leben nahmen. Das 1. TX Gesetz wurde mit einer Zweidrittel Mehrheit, 629 von 449, in Deutschland verabschiedet, nachdem es in allen Medien, Landtagen, im Ethikrat jahrelange erbitterte Diskussionen gegeben hatte. 2015 erklärte Frau Prof Woopen, Vorsitzende des damaligen Ethikrates, dass der Hirntod nicht der Tod des Menschen sei, die Organspende aber möglich sei, wenn die Bevölkerung umfassend aufgeklärt sei und begreife, was sie tut.
Als das erste Transplantationsgesetz in Deutschland verabschiedet wurde, präsentierte der Gesetzgeber der Bevölkerung die erweiterte Zustimmungslösung. Wenn der potentielle Spender keine Entscheidung vor seinem Hirntod gefällt hatte, durften Angehörige an seiner Statt eine Entscheidung fällen, hatten aber den mutmaßlichen Willen des Spenders zu beachten. Mediziner, Transplantationskoordinatoren und Klinikpfarrer wurden sorgfältig geschult, um Angehörigen in dieser extremen Situation ein „Ja“ zur Organspende abzuringen. 2007 wurde das Gesetz durch das Thema Gewebespende erweitert. 2012 wurde die Entscheidungslösung verabschiedet und 2020 die bislang letzte Änderung des Transplantationsgesetzes; das „Gesetz zur Stärkung der Entscheidungsbereitschaft“.
Es hat sich inzwischen eine milliardenschwere Pharmaindustrie neben der Transplantationsmedizin entwickelt, die auch bedient werden will. Aber die Spender brechen weg. Es gibt einfach weniger potentielle Organspender. Unser jetziger Gesundheitsminister, Prof. Lauterbach, will deshalb die nächste Gesetzeslösung durchsetzen, nämlich die Widerspruchslösung. Wer nicht widersprochen hat, ist automatisch Organspender.
Meine Suche nach Informationen hat mich bis zum heutigen Tag geführt. Es gibt nichts, was ich in meinem Leben so bedauere, wie diese Entscheidung, die ich nicht rückgängig machen kann. Meine Hoffnung ist nun, nachdem Sie mir eine halbe Stunde lang zugehört haben, dass Sie sich bitte unbeeinflusst von Interessenverbänden, Politikern oder der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, BzgA, informieren, ehe Sie eine Entscheidung fällen. Die Möglichkeit dazu haben Sie, z.B. auf der Website von KAO oder auf unserer Facebook Seite, wo regelmäßig die neuesten internationalen Fachartikel zum Hirntod erscheinen. Was Sie aus diesen Informationen machen, ist absolut Ihre Sache, aber bedenken Sie, Ihre Entscheidung muss standhalten, wenn sie auf dem Operationstisch liegen und nach der Qualität ihrer Organe beurteilt werden. Bedenken Sie auch, dass Ihre Angehörigen mit ihrer Entscheidung leben müssen, wenn sie nachträglich erfahren, wie umstritten der Hirntod ist. Und fragen Sie sich auch, wann der Zeitpunkt am besten ist, an die Bedürfnisse anderer Menschen zu denken, jetzt, mitten im Leben oder wenn es um ihr eigenes Sterben geht.
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Als Fiktion bezeichnet die Rechtswissenschaft die Anordnung des Gesetzes, tatsächliche oder rechtliche Umstände als gegeben zu behandeln, obwohl sie in Wirklichkeit nicht vorliegen. Hierbei kann die Fiktion das genaue Gegenteil der tatsächlichen Umstände als rechtlich verbindlich festlegen. Siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Fiktion_(Recht) Aufgerufen am 22.11.2022 ↑
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Paolo Bavastro,“Organspende – der umkämpfte Tod“, Urachhaus 1995) ↑
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Hans Jonas (1903-1992) befand 1968 zum Hirntodkonzept (in „Technik, Medizin und Ethik. Zur Praxis des Prinzips Verantwortung“, Insel Verlag 1990, S. 228 ff) „Beim irreversiblen Koma, wie die Harvard-Gruppe es definierte, ist der springende Punkt natürlich genau der, dass es ein Zustand ist, der die Reaktivierung irgendeines Gehirnteils in jedem Sinne ausschließt. Das Gehirn, so müssen wir dann sagen, ist tot. Wir haben dann einen „Organismus als ganzen“ minus Gehirn, der in einem Zustand partiellen Lebens erhalten wird, solange die Lungenmaschine und andere Hilfsmittel am Werke sind. Und hier ist meinem Dafürhalten nach die richtige Frage nicht: ist der Patient gestorben?, sondern: was soll mit ihm – immer noch ein Patient – geschehen? (…) Nach alledem ist mein Argument sehr einfach. Es ist dies: Die Grenzlinie zwischen Leben und Tod ist nicht mit Sicherheit bekannt, und eine Definition kann Wissen nicht ersetzen. Der Verdacht ist nicht grundlos, dass der künstlich unterstützte Zustand des komatösen Patienten immer noch ein Restzustand von Leben ist (wie er bis vor kurzem auch medizinisch allgemein angesehen wurde) (…) Daraus folgt, dass Eingriffe, wie ich sie beschrieb, der Vivisektion gleichzuachten sind und unter keinen Umständen an einem menschlichen Körper stattfinden dürfen.“ ↑