Anna Bergmann
Das Eindringen der Transplantationsmedizin in die Intensivstationen:
Die Entwicklung der Transplantationsgesetzgebung in Deutschland
Broschüre PDF DIN A5 – 54 Seiten
Diese Broschüre ist auch als gedruckte Broschüre erhältlich.
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Zusammenfassung
Der Artikel stellt die deutsche transplantationsmedizinische Gesetzgebung und die damit verbundenen medizinethischen Konfliktfelder vor. Er beleuchtet, wie sich ein wesentliches Merkmal seit dem Durchbruch der Transplantationsmedizin als neue Therapieform in den 1960er Jahren herausgebildet hat: Der Gesetzgeber stand von Anfang an vor der Aufgabe, immer erst im Nachhinein, teilweise Jahrzehnte später, rechtliche Grauzonen schließen zu müssen.
Diese Besonderheit liegt in einem vielschichtigen Dilemma begründet: Die Transplantationsmedizin ist auf den Körper anderer Patienten angewiesen. Daraus resultiert ihre Abhängigkeit von einer unserer kulturellen Todesvorstellung drastisch abweichenden Definition des Sterbens und des Todes (‚Hirntod‘). Zudem muss eine künstliche lebensverlängernde Behandlung von ‚hirntoten‘ Patienten nach der Hirntodfeststellung weitergeführt werden. Denn nur aus ihrem lebendigen Körper gewonnene Organe sind verpflanzbar. Zum alleinigen Zweck der ‚Organspende‘ darf die intensivmedizinische Maximaltherapie von Patienten mit einem Hirnversagen darf im dokumentierten Totenstatus (Hirntodprotokoll) selbst Operationen oder eine kardiopulmonale Reanimation (Herz-Lungen-Wiederbelebung) umfassen.
Die nicht mehr dem Wohl des betreffenden Patienten dienende sogenannte organprotektive Therapie prägt entscheidend den medizinischen und sozialen Umgang mit einem sterbenden Menschen am Ende seines Lebens. Vor dem Hintergrund dieser ethisch heiklen Behandlungsstrategie ist der Gesetzgeber mit der Aufgabe betraut, Ausnahmeregelungen für die fremdnützige Therapie von potenziellen ‚Organspendern‘ zu finden. Denn es sind die zu legalisierende Spenderrekrutierung und die einer Sektion gleichenden Multiorgan- und Gewebeentnahmen mit den Richtlinien zur ärztlichen Sterbebegleitung sowie Grundsätzen der medizinischen Ethik zu vereinbaren.
Zudem widerspricht eine auf die Organgewinnung orientierte Behandlung von potenziellen ‚Organspendern‘ den Grundprinzipien der auf Intensivstationen etablierten Palliativmedizin (lat. ‚palliare’: mit einem Mantel umhüllen): Eine Palliation verzichtet bereits in der Phase eines sich abzeichnenden Hirnversagens auf sinnlos gewordene, lebenserhaltende medizinische Maßnahmen. Sie macht somit eine ausschließlich für die Organentnahmen erforderliche Hirntodfeststellung hinfällig. Die palliative Sorge richtet den Fokus auf eine leidensmindernde Therapie und hat eine medizinische, spirituelle sowie psychosoziale Betreuung des sterbenden Menschen, aber auch seiner Angehörigen im Blick.
Die seit 2012 erfolgten Reformen der deutschen Transplantationsgesetzgebung betten die ‚Organspende‘ in den Perspektivwechsel von einem paternalistischen Arzt-Patienten-Verhältnis zu einem neuen Selbstverständnis der Medizin ein: Dabei geht es um die Beteiligung der Patienten als selbstverantwortliche Subjekte an medizinischen Entscheidungsprozessen. Diese können auch Situationen der Nichteinwilligungsfähigkeit am Lebensende betreffen (‚End-of-Life-Decisions‘). Eine zentrale Säule der Patientenautonomie stellt ein persönliches, ärztliches Aufklärungsgespräch der geplanten Diagnoseverfahren und körperlichen Eingriffe dar.
Auf dieses Selbstbestimmungsideal beziehen sich alle letzten Novellierungen des Transplantationsgesetzes – allerdings ohne eine fundierte Patienteninformation zur verpflichtenden Voraussetzung einer Organspendeerklärung zu machen. Damit erlaubt der Gesetzgeber große Wissenslücken in der Bevölkerung. Mit der Einführung der sogenannten Entscheidungslösung kann nunmehr die zum Zweck der ‚Organspende‘ durchzuführende ‚spendezentrierte Therapie‘ exklusiv als Realisierung des Patientenwillens gelten. Ohne Berücksichtigung des allgemein herrschenden Informationsdefizits soll nur noch die zuvor einmal individuell niedergelegte Dokumentation der Organspendebereitschaft als ethisch saubere Handlungsanleitung für eine nicht mehr auf das Patientenwohl ausgerichteten ‚organprotektiven Behandlung‘ am Lebensendes dienen.
In dem Artikel wird nachgezeichnet, wie die gesetzgeberische Ambition, das Spannungsfeld zwischen der fremdnützigen Therapie von ‚Organspendern‘ und den Grundsätzen der Medizinethik auszubalancieren, gescheitert ist. Rechtslücken wurden nicht geschlossen, indessen die im Transplantationsgesetz (TPG) vorgeschriebene Trennung von Intensiv- und Transplantationsmedizin aufgeweicht. Zudem stehen die in der Transplantationsgesetzgebung und die im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) verankerten, medizinrechtlichen Regelungen zur Behandlungseinwilligung nicht miteinander in Einklang. Gesetzliche Vorschriften für die ‚Organspende‘ (TPG) und Regelungen zur Durchführung medizinischer Maßnahmen (BGB) erscheinen wie zwei voneinander getrennte Rechtsgebiete. Auch hat der Gesetzgeber keine Priorisierung beider Bereiche vorgenommen.
Die geltende ärztliche Aufklärungspflicht bei körperverletzenden Eingriffen und das sogenannte Patientenverfügungsgesetz (BGB) sind für die Behandlung von Patienten mit einem drohenden Hirnversagen zwar nicht aufgehoben. Doch die Transplantationsgesetzgebung behandelt den medizinischen und sozialen Umgang mit potenziellen ‚Organspendern‘ wie einen vom BGB unabhängigen Regelungsbereich. Aufgrund dieser doppeldeutigen Rechtslage sind z.B. nur volljährige Personen dazu befugt, eine rechtswirksame Patientenverfügung niederzulegen (BGB). Das Transplantationsgesetz hingegen erlaubt die Einwilligung zur ‚Organspende‘ von Minderjährigen ab dem 16. Lebensjahr.
Keywords: Nürnberger Kodex, Genfer Gelöbnis, ‚Hirntod‘, Entnahmekrankenhäuser, ‚Spendermanagement‘, ‚organprotektive Therapie‘, Patientenverfügung, Organspendeausweis, Palliativmedizin