Das Unglück
Im Herbst 1997 hatte mein Sohn Arnd einen schweren Unfall und musste noch am Unfallort beatmet werden. In der Klinik, in der man ein schweres Schädel-Hirn-Trauma feststellte, wurde er gleich in der Nacht operiert. Mein Mann und ich erfuhren erst am nächsten Morgen von seinem Unglück und erreichten nach etwa sechs Stunden Autofahrt das Krankenhaus.
Arnd lag auf der Intensivstation, zusammen mit fünf oder sechs anderen Patienten, er wurde beatmet, hatte einen Kopfverband von der Operation, war an viele Geräte angeschlossen und lag wie schlafend da. Er war in ein künstliches Koma versetzt worden. An seiner rechten Schulter, die bloß lag, hatte er eine Prellung und über der linken Augenbraue eine Schnittwunde. Am Nachmittag hatten wir – das heißt unsere Schwiegertochter, unsere Tochter, mein Mann und ich – ein Gespräch mit der Ärztin, die ihn operiert hatte. Sie sagte, seine Überlebenschancen seien gering und die Diagnose „Hirntod“ sei wahrscheinlich. Mein Mann sagte spontan, dann würde uns wohl die Frage nach einer Organspende gestellt werden.
Einen oder zwei Tage später sprach uns die Stationsleiterin an und beglückwünschte uns zu der Entscheidung für eine Organspende. Wir sagten, wir hätten noch nicht darüber gesprochen, bekamen aber den Eindruck, wir müssten uns so schnell wie möglich entscheiden. Unsere Schwiegertochter sagte uns dann wenig später, Arnd hätte sich für Organspende ausgesprochen. Wir teilten das den Ärzten mit. Somit waren die Weichen für eine Organentnahme gestellt, und zwar schon vor der Hirntodfeststellung.
Die Entscheidung
Im Nachhinein frage ich mich, warum das so ablaufen konnte: Mein Mann und ich haben jeden Tag, bis spät in die Nacht, an Arnds Bett gesessen – abgesehen von den Zeiten, zu denen wir aus der Intensivstation geschickt wurden. Wir haben geredet, von früher erzählt und nicht ein einziges Mal das Gefühl gehabt, er sei tot. Sein Gesicht und seine Hände waren warm, sein Brustkorb hob und senkte sich und wir sahen seinen Herzschlag auf dem Monitor. Wir hielten seine Hände, fassten uns über seine Bettdecke hin an und waren eine Einheit. Ich wusste im Inneren, dass er sterben würde, und empfand diese letzte Zeit mit ihm als kostbar und begrenzt.
Den Gedanken an Organentnahme ließ ich nicht zu, denn er passte nicht zu meinem Erleben.
Vor dem Unfall war meine Einstellung zur Organspende eher positiv gewesen, im Sinne von: „Wenn ich tot bin, brauche ich meine Organe nicht mehr. Dann können andere Menschen damit weiterleben.“ Dass wir über eine mögliche Organentnahme bei einem unserer Kinder entscheiden müssten, daran hatte ich nie gedacht. Dass wir nicht nach unserer eigenen Einstellung dazu gefragt würden, sondern nach seinem mutmaßlichen Willen, das wussten wir nicht. Mein Inneres sagte mir, dass ich eine Organentnahme überhaupt nicht wollte, aber das schien nicht zu zählen.
Meine Tochter, die zwischenzeitlich zu Hause gewesen war und zwei Tage später in die Klinik zurückkam, protestierte heftig gegen unsere vorweggenommene Zustimmung zur Organentnahme und sagte erschüttert: „Er ist doch keine Organbank!“ Ich hörte ihren Protest, verstand sie, aber stand ihr nicht bei. Denn über allem stand seine mündliche Erklärung für die Organspende.
Am nächsten Tag brach bei mir dasselbe Entsetzen aus. Wir redeten und kamen zu der Entscheidung, dass wir die Zustimmung zur Organentnahme zurücknehmen würden, wenn sie nicht noch an diesem Tag erfolgte. Damit haben wir den Ärzten die Verantwortung übergeben und sie unter Zeitdruck gesetzt. Unser sterbender Sohn wurde noch schutzloser.
Das Thema „Organtransplantation“ stand von Beginn an im Raum und hat den Abschied zusätzlich belastet. Uns war anfangs nicht klar, dass offiziell erst nach der Hirntodfeststellung die Frage nach einer Organspende gestellt werden darf, wie es dann auch die Transplantationskoordinatorin tat. Ihre Frage lautete: „War Ihr verstorbener Mann, Ihr Sohn, Ihr Bruder sozial eingestellt?“ Wer kann gleich nach der Todesnachricht dieser Suggestivfrage widerstehen und die Vermutung aufkommen lassen, der Angehörige sei womöglich unsozial gewesen? Wer hat die Kraft, die angebotene Tröstung abzulehnen, dass der Tod dieses geliebten Menschen nicht sinnlos sei, indem er das Leben anderer retten könne? Und wer hat in dieser existenziellen Notsituation die Klarheit, die eigenen Widerstände wahrzunehmen und ernst zu nehmen? Ich hatte diese unsere mündliche Zustimmung schon vorher gegeben hatten.
Die offiziellen Informationen
„Sich informieren und dann entscheiden!“, so lautet eine Aufforderung in der Broschüre „Wie ein zweites
Leben“ von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Informieren konnten wir uns in dieser Situation nicht. Wir bekamen im Krankenhaus auch keine Hinweise darüber, wie eine Organentnahme abläuft und dass eine Sterbebegleitung nicht möglich Wenn wir alle, auch unser Sohn, uns aber vorher informiert hätten mit Hilfe des von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung empfohlenen Informationsmaterials, wären wir wahrscheinlich zu keiner anderen Entscheidung gekommen. Denn was Organentnahme für den hirntoten Organspender und seine Angehörigen wirklich bedeutet, geht aus den Informationen und dem Organspendeausweis nicht hervor.
Die Zweifel
Einige Zeit nach seinem Tod begannen meine Alpträume. In vielen Träumen durchlebte ich, dass er nicht richtig begraben war, dass seine Leiche in einem Aquarium trieb oder dass sein Leichnam aus dem Grab verschwunden war. Mir wurde dadurch eindringlich bewusst, dass mich zusätzlich zur Trauer um seinen Tod die Zustimmung zur Organentnahme
belastete. Ich hatte Schuldgefühle, weil ich ihn nicht davor beschützt hatte, und verschloss alles in mir. Erst nach langer Zeit konnte ich darüber reden, zuerst mit der Familie, dann mit Freunden. Schließlich fand ich im Internet eine Website mit Berichten von Eltern, die ähnliche Erfahrungen gemacht hatten. Das habe ich als eine große Erleichterung erlebt, und danach habe ich mich umfassend informiert.
Im Organspendeausweis der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung heißt es: „Für den Fall, dass nach meinem Tod eine Spende von Organen/Geweben in Frage kommt…“ Darin wird weder der Hirntod als Voraussetzung für eine Organentnahme genannt, noch wird erklärt, welche Organe oder Gewebe für eine Entnahme in Frage kommen.
Die Akte
Etwa fünf Jahre nach seinem Tod fand ich den Mut, an die Klinik zu schreiben und das Recht auf Akteneinsicht wahrzunehmen. Die Kopien habe ich, über einen langen Zeitraum verteilt, immer dann gelesen, wenn ich die Kraft dazu hatte, und mit dem Transplantationsgesetz verglichen. Das Hirntodprotokoll ist das entscheidende Dokument, das nach vorliegender Zustimmung des „Hirntoten“ oder der Angehörigen zu einer Organentnahme berechtigt.
Dies sind die wichtigsten Voraussetzungen für ein Hirntodprotokoll bei einer Hirnschädigung, wie sie mein Sohn hatte:
- Zwei klinische Untersuchungen von zwei voneinander unabhängigen Fachärzten, die mit der Organentnahme nichts zu tun haben dürfen.
- Zwischen den beiden klinischen Untersuchungen muss eine Wartezeit von mindestens 12 Stunden eingehalten werden.
- Die Wartezeit kann verkürzt werden, wenn statt der 2. klinischen Untersuchung eine apparative Untersuchung, z.B. ein Null-Linien-EEG, vorgenommen wird.
- Vor der ersten Hirntoduntersuchung muss sicher gestellt sein, dass keine Medikamente mehr im Körper sind, die ein tiefes Koma vortäuschen könnten.
Fast alle Intensiv- und Notfallpatienten wurden vor ihrer Hirntodfeststellung vom Notarzt mit Sedativa (Beruhigungsmitteln) und Narkotika (Schlafmittel zur Narkose) behandelt. Diese Medikamente werden bei Schwerverletzten schlechter abgebaut mit der Folge, dass sie viel (manchmal wochenlang!) länger wirken als normal… Andererseits kann ein echter Hirntod durch Behandlungsfeh-ler entstehen oder bei „Schwellenpatienten“ bewusst herbeigeführt werden. Das sind zwei von mehreren Gründen, warum ich strikter Gegner des Hirntod-Ansatzes bin.“
– Dr. A. Jaeckel, Deutsches Medizin Forum, Bad Nauheim
Und dies sind die Verstöße gegen das Transplantationsgesetz, die ich in den Akten gefunden habe:
- Zwischen der ersten und der zweiten klinischen Hirntoduntersuchung lagen nicht 12 Stunden, sondern 2 Stunden und 45 Minuten!
- Ein zusammenfassender Bericht (Epikrise), verfasst am 9.9.1999, also fast zwei Jahre nach der Organentnahme, erwähnt ein Null-Linien-EEG, das angeblich bei meinem Sohn vorgenommen wurde. Im entscheidenden Dokument, dem Hirntodprotokoll, ist jedoch kein Null-Linien-EEG aufgeführt. Auch in den Akten fanden sich keine EEG-Aufzeichnungen. Die Explantation hätte nach dem vorliegenden unvollständigen Hirntodprotokoll gar nicht durchgeführt werden dürfen!
- Mein Sohn war nach der Kopfoperation in ein künstliches Koma versetzt worden. Das Chemisch-Toxologische Gutachten ergab einen Befund von 1.24 mg/l Thiopental. In der Beurteilung des Gutachters steht: „Es ergeben sich Hinweise für eine Aufnahme von Thiopental (Trapanal). Eine weiterführende Beurteilung behalten wir uns vor.“ Die koordinierende Ärztin hatte uns gesagt, der Wert müsse vor der ersten Hirntoduntersuchung unter 1,0 liegen. Beim Vergleich der Zeitabläufe stelle ich fest: Das Fax mit dem Gutachten wurde von der Rechtsmedizin um 18.29 Uhr abgeschickt. Es wurde um 18.36 in der Klinik empfangen. Die erste Hirntod-Untersuchung begann um 18.45 Uhr. Das heißt, sie haben das Ergebnis des Gutachtens, das eine weiterführende Beurteilung vorsah, überhaupt nicht berücksichtigt!
Dies sind eindeutig gravierende Verstöße gegen das Transplantationsgesetz. Mein Sohn war zwar vor Inkrafttreten des Transplantationsgesetzes explantiert worden, aber man hatte uns zugesichert, sie würden sich an das vom Parlament verabschiedete Gesetz halten. Außerdem galten vor Inkrafttreten die Richtlinien der Bundesärztekammer mit den gleichen Bestimmungen.
In der Leitlinie Anästhesiologie: Erklärung zum Hirntod (www.uni-duesseldorf.de) steht:
„Nach dem Hirntod gibt es kein Schmerzemp-finden mehr. Deshalb sind nach dem Hirntod keine Maßnahmen zur Schmerzverhütung (z.B. Narkose) nötig. Die Tätigkeit eines Anästhesisten bei der Organentnahme – zu Maßnahmen wie z.B. der künstlichen Beatmung, der Kontrolle der Herztätigkeit und des Kreislaufs sowie der notwendigen Ruhigstellung der Muskulatur – dient ausschließlich der Erhaltung der Funktionsfähigkeit der zu entnehmenden Organe.“
Im Folgenden beschreibe ich Vorgehensweisen, die zwar im Einklang mit dem Transplantationsgesetz stehen, mich aber besonders erschüttert haben:
- Auf dem Operationsprotokoll steht „Narkoseprotokoll“. Daraus schloss ich, dass mein Sohn während der Organentnahme narkotisiert wurde. Doch Anästhesisten, denen ich das Operationsprotokoll gezeigt habe, stellten fest, dass mein Sohn zwar muskelentspannende Mittel, aber keine Narkose und keine Schmerzmittel erhalten hat. Die nebenstehende Erklärung dazu kann mich keineswegs beruhigen, denn auch Mediziner können ein Schmerzempfinden nicht ausschließen, weil das vollständige Versagen des Gehirns nicht nachweisbar ist. Bei Organentnahmen wurden immer wieder Hautrötungen, Schwitzen, Blutdruckanstieg und Abwehrbewegungen beim Einschnitt in den Körper festgestellt. Das sind bei anderen Operationen Anzeichen für Schmerz, nur bei „hirntoten“ Organspendern werden sie als bedeutungslose Reaktionen angesehen. Die Vorstellung, dass mein Sohn bei lebendigem Leib ohne Rücksicht auf noch mögliche Schmerzempfindungen ohne Vollnarkose explantiert wurde, ist unerträglich.
- Bei meinem Sohn wurde dreimal die klinische Hirntoddiagnostik vorgenommen, und zwar um 18.45 Uhr, um 21.30 Uhr und noch einmal ohne Zeitangabe, vermutlich kurz vor der Explantation. Zu einer klinischen Untersuchung gehören Reize mit Instrumenten, das Setzen von Schmerzreizen, indem der Untersuchende mit einer Nadel in die Nasenscheidewand sticht und indem 4 Grad kaltes Wasser in die Ohren gespült wird. Außerdem wird jedes Mal der Apnoe-Test gemacht: Dabei wird dem hirnverletzten Patienten die künstliche Beatmung für bis zu zehn Minuten entzogen, um feststellen zu können, ob er selbstständig zu atmen beginnt. Diese Untersuchung beeinträchtigt nach Aussage von Ärzten eindeutig die mögliche Erholung eines hirnverletzten Patienten und kann sogar den Tod des Patienten hervorrufen. Bei der Tagung der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften in Rom 2005 wurde die Forderung erhoben, den Apnoe-Test als unethisches medizinisches Verfahren zu verurteilen und für ungesetzlich zu erklären.Und diese Quälerei musste mein im Sterben liegen-der Sohn dreimal über sich ergehen lassen!
- Wann war er endgültig tot? Auf dem Hirntodprotokoll ist als Todeszeitpunkt 22.01 Uhr angegeben. Im Narkoseprotokoll von der Explantation finde ich die Begriffe „Kardioplegie
(= künstlich herbeigeführter Herzstillstand), Blutleere, Hypothermie (= Kühlung der Organe durch Perfusionslösung von 4 Grad): Organentnahme“, eingetragen um 3.20 Uhr. Unmittelbar vor der Entnahme hat man sein Blut aus dem Körper gespült und stattdessen eine vier Grad kalte Konservierungsflüssigkeit durch die Organe geleitet bei gleichzeitiger äußerer Kühlung der Organe im Körper. Danach wurde sein immer noch schlagendes Herz zum Stillstand gebracht. Mein Sohn starb also einen Tag später um 3.20 Uhr. Der Todestag auf seinem Grabstein ist falsch! - Was hat man mit ihm gemacht in der Zeit zwischen dem Beginn der Explantation, seinem herbeigeführten Herzstillstand und dem Ende der Operation, in 3 Stunden und 45 Minuten? Im Internet habe ich eine Website gefunden, in der es um die Entnahme der Bauchspeicheldrüse ging. Darin wird gesagt, dass auch der Zwölffingerdarm dabei entnommen werden muss. An anderer Stelle las ich, dass Teile der Milz oder Lymphknoten entnommen werden, um die Gewebeverträglichkeit mit den möglichen Empfängern abgleichen zu können. Die Klinik, in der mein Sohn explantiert wurde, ist als Akademisches Lehrkrankenhaus einer Universität angegliedert. Daher befürchte ich, dass sie zusätzlich zu den freigegebenen Organen – Herz, Leber, Nieren und Bauchspeicheldrüse – noch andere Gewebeteile entnommen haben. Denn diese sind nicht zustimmungspflichtig und sind nützlich für Transplantationen, Forschung und Pharmaindustrie.
„Es ist in der Tat nicht zu belegen, dass eine für hirntot erklärte Person tatsächlich über keinerlei Wahrnehmungsvermögen, insbesondere Schmerzempfindlichkeit verfügt.“
- Prof. Dr. med. W. Lauchert, Geschäftsführender Arzt der DSO in einem Schreiben vom 25.9.2000 an die Pastorin Ines Odaischiv
Auf einer Website der Ethik-Kommission Göttingen steht ein Text zur „Durchführung von Forschungsvorhaben an Hirntoten“. Es wird gesagt, es sei wünschenswert, „dass vor Beginn von medizinischen Versuchen an Hirntoten eine Beratung durch die Ethik-Kommission erfolgt“. Aber die Berechtigung, Hirntote für Versuche zu verwenden, wird nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Außerdem sind die Empfehlungen von Ethik-Kommissionen nicht verpflichtend. Was hat man noch von meinem Sohn verwerten können? Zum Beispiel Samenflüssigkeit? Oder haben sie doch die Augen entfernt, obwohl wir deren Entnahme ausgeschlossen hatten? Ich finde eine Website, in der beschrieben wird, wie die Augenentnahme durch eingesetzte Glasaugen geschickt kaschiert werden kann. Auch die Gehörknöchelchen hätte man entnehmen können, ohne dass wir es bemerkt hätten. Er hatte ja nach der Kopfoperation einen Kopfverband. Hat man meinen Sohn während der Explantation vielleicht gefilmt, für Lehrzwecke? Niemand war da, um ihn zu schützen! Ich sehe ihn wieder vor mir, aufgebahrt im Sarg, sein Mund klein und verkrampft. Er hatte keinen friedvollen, gelösten oder ernsten Gesichtsausdruck wie andere Tote, die ich gesehen habe, sondern sah aus, als wäre er unter Schmerzen gestorben.
Ärztezeitung, 29.10.2004, Kommentar: „Juristische Grauzonen“ von Nicola Siegmund-Schulze:
„Zellen und Gewebe sind seit langem wertvoll für die Medizin … Das Transplantationsgesetz von 1997 hat Klarheit nur zum Teil geschaffen. Es bezieht sich zwar auf Organe und Gewebe, regelt aber konkret im wesentlichen, wie solide Organe entnommen, verteilt und verwendet werden dürfen. Ein Beispiel: Das Gesetz schließt den Handel mit Organen aus. Aber viele Gewebe wie Knorpel, Haut oder Faszien werden trotzdem erworben, weiterverarbeitet und verkauft – das ist vor Verabschiedung des Gesetzes so gewesen und danach ebenso…“
Wie wäre er sonst gestorben?
Wenn wir nach der Hirntodfeststellung eine Organentnahme abgelehnt hätten, wäre kurz danach die Beatmung abgestellt worden. Sein Herz hätte noch stundenlang weiterschlagen können, so sagte man uns nach der Todesnachricht, und er wäre erstickt – das ist, wie wir später hörten, eine Lüge. In Berichten von Ärzten und Pflegern finde ich Beschreibungen von einem heftigen Todeskampf, bei dem viele meinen, es sei den Angehörigen nicht zumutbar, dabei zu sein. Ich frage mich, ob nicht erst die Spenderkonditionierung (d.h. intensive medizinische Behandlung zur Erhaltung der Organe), die einen hirntoten Sterbenden mit allen Mitteln bis zur Organentnahme im Leben hält, diesen qualvollen Todeskampf herbeiführt. Denn die Spenderkonditionierung muss laut Ärzteblatt schon beim „klinischen Eindruck des Hirntodes beginnen“.
Im Ärzteblatt (www.aerzteblatt.de/v4/archiv/artikel.asp?id=45240) ist die Rede von
„einem sorgfältigen und vorausschauenden Umgang mit dem tief komatösen Patienten, der nach Abschluss der Hirntodbestimmung sowie der Beratung mit den Angehörigen ein Organspender werden könnte… “
Diese Behandlung eines tief komatösen Patienten als potenziellen Organspender schon vor der Hirntodfeststellung verstößt gegen das Transplantationsgesetz!
Oder mein Sohn wäre ohne Spenderkonditionierung bei künstlicher Beatmung wegen Lungenversagens an einem Herz-Kreislauf-Stillstand gestorben. Im Nachhinein weiß ich, dass es besser gewesen wäre, wenn mein Sohn schon vor Abschalten der Beatmung gestorben wäre, aber in beiden Fällen hätten wir ihn bis zuletzt begleiten können.
Der sogenannte Hirntod
„Hirntod“ bedeutete für mich vor dem Unglück den Tod des Menschen, wie es der Begriff auch nahe legt. Das habe ich nicht hinterfragt. Doch bei meinem Sohn hatte ich nicht einen Moment das Gefühl, er sei tot. Er sah lebendig aus und wurde die ganze Zeit über intensiv behandelt und versorgt. Er würde sterben, das befürchtete ich. Und einen Sterbenden lässt man üblicherweise nicht allein, sondern begleitet ihn bis zum Tod und über den Tod hinaus. Trotzdem konnte ich der Feststellung, er sei tot, nichts entgegensetzen. Warum nicht? Diese Frage lässt mich nicht los. Auf der Suche nach einer Antwort mache ich die extreme Schocksituation verantwortlich, in der wir uns befanden. Aber das ist es nicht allein. Ich denke, mein Versagen hat noch mit etwas Anderem zu tun: „Organspende rettet Leben“, „Leben weitergeben“ und „Schenken Sie Leben“ sind zu stehenden Redewendungen und eingängigen Bildern geworden, die sich unmerklich eingegraben haben in unseren Wortschatz und unser Wertesystem. Auch die Kirchen haben bekräftigt, dass Organspende im Namen der Nächstenliebe erfolgen kann. Wie kann ich etwas, was so gut und segensreich zu sein scheint, in Frage stellen? Doch die Diskrepanz zwischen dem, was an Positivem mit der Organspende von Hirntoten verknüpft wird, und meinem eigenen Erleben ist unüberwindlich.
„…Da sogenannte Hirntote keine Leichen sind, sondern Menschen, die infolge eines bestimmten Organversagens in absehbarer Zeit zwar tot sein werden, aber in der Jetztzeit noch nicht zu Ende gestorben sind, benötigen sie eine besondere Begleitung. Im Sterben wird noch intensiv gelebt, ein Leben, das den Explantierten und ihrem sozialen Umfeld zu einem großen Teil entzogen wird…“
- Prof. Dr. Franco Rest
Mein Entsetzen
Mich macht wütend, dass die Transplantations-Organisationen auf eine umfassende Information der möglichen Organspender und der Öffentlichkeit verzichten. Sie verweigern auch Informationen darüber, dass der sogenannte Hirntod nicht der Tod ist, den wir bisher gekannt haben. Und sie sagen nicht, dass Organentnahme eine Sterbebegleitung durch die Angehörigen unmöglich macht. Stattdessen setzen sie auf eine große Akzeptanz in der Bevölkerung, weil Organtransplantationen kranken Menschen das Leben verlängern oder erheblich erleichtern können. Und im Ernstfall werden uninformierte Angehörige von Hirntoten dann überrumpelt, so wie es uns ergangen ist. Ich fühle mich missbraucht durch eine Medizin, die einen neuen Todesbegriff einführt und Menschen, deren Gehirn unumkehrbar geschädigt ist, vorzeitig für tot erklärt, indem man sie aufteilt in eine tote Person einerseits und einen lebenden Restkörper andererseits. Die Hirntoddiagnose – wie es das 1997 vom Bundestag verabschiedete Transplantationsgesetz besagt – ermöglicht nach der Zustimmung den Zugriff auf den Hirntoten und die Verwertung des „Restkörpers“. Mein Sohn war kein Restkörper, sondern ein sterben der Mensch, der unsere liebevolle Begleitung und Schutz vor Manipulationen in seinem Sterbeprozess gebraucht hätte. Ich hätte uns behandelnde Ärzte gewünscht, die offen mit uns über die Konsequenzen einer Organentnahme geredet hätten. Aber das Transplantationsgesetz verpflichtet Ärzte dazu, potenzielle Organspender zu melden. Intensivmediziner stehen dadurch vor dem Dilemma, das Wohl des ihnen anvertrauten sterbenden Patienten gegen das Wohl von potenziellen Organempfängern abwägen zu müssen. Ich wünsche mir viele mutige Ärzte und Pflegekräfte, die sich dem gesellschaftlichen Druck widersetzen, Menschen mit Hirnversagen unter dem Aspekt der Verwertbarkeit für andere zu sehen und zu behandeln. Das Grundrecht der Menschen, gerade in der letzten Lebenszeit unbehelligt zu bleiben von den Ansprüchen Dritter, ist durch das Transplantationsgesetz außer Kraft gesetzt worden. Mir bleibt das Entsetzen darüber, dass mein Sohn Arnd einen gewaltsamen Tod hatte. Jetzt muss ich mit dem Geschehenen leben. Meine Hoffnung ist, dass ich andere Menschen dazu anregen kann, sich auch die Seite der Spender und ihrer Familien anzusehen. Dann können sie im Ernstfall hoffentlich eine Entscheidung treffen, mit der sie im Einklang sind.