Hirntote sind nicht tot - Meine Erfahrungen mit dem sogenannten Hirntod

Zuerst muss ich ganz deut­lich sagen, dass ich kein Geg­ner der Organ­trans­plan­ta­ti­on bin, aber ich bin für eine offe­ne Beschrei­bung des Aktes der Organ­ent­nah­me, die ja noch am leben­den Kör­per statt­fin­det und nicht nach dem Tod.

Mein Mann, wir sind inzwi­schen geschie­den, hat­te nach einer Kropf­ope­ra­ti­on einen Herz­still­stand erlit­ten auf­grund einer Nach­blu­tung, die auf einen im Ope­ra­ti­ons­ge­biet lie­gen­den Reflex­kno­ten für die Herz­tä­tig­keit drück­te. Die­ser Vor­gang wur­de vom Bett­nach­barn beob­ach­tet, der sofort nach Hil­fe rief.

Vom dienst­ha­ben­den Nacht­schicht­arzt wur­de der Tod fest­ge­stellt, eine Reani­ma­ti­on sei erfolg­los gewe­sen oder wur­de ein­ge­stellt aus uner­find­li­chen Grün­den und die Nacht­schwes­ter alar­mier­te den Chef­arzt zu Hau­se, weil der ope­riert hat­te. Die­ser kam nach ca. 20 Minu­ten im Kran­ken­haus an, er setz­te die Reani­mie­rung an und eine Not­ope­ra­ti­on. Es wur­de der kom­plet­te Hirn­tod fest­ge­stellt, spon­ta­ne Atmung gab es nicht. Also wur­de mein Mann beatmet und auf die Inten­siv­sta­ti­on verlegt.

Mir wur­de mit­ge­teilt, mein Mann hät­te einen Herz­in­farkt gehabt, und wür­de bald ster­ben, was auch wün­schens­wert sei, weil das Gehirn min­des­tens 20 Minu­ten ohne Sau­er­stoff gewe­sen sei.

Zum Glück war damals (1975) die Trans­plan­ta­ti­ons­tech­nik noch nicht so ver­brei­tet wie heu­te, sonst hät­te man mich sicher gefragt, ob ich ein­ver­stan­den sei, dass Orga­ne ent­nom­men wer­den könn­ten, schließ­lich war mein Mann gera­de mal 38 Jah­re alt
und kom­plett gesund.

Wäh­rend der fol­gen­den vier Tage war ich nahe­zu rund um die Uhr an sei­nem Bett und habe ihn beob­ach­tet, auf ihn ein­ge­re­det, konn­te nicht akzep­tie­ren, dass er eigent­lich tot sein soll­te. Schließ­lich beob­ach­te­te ich, dass die Moni­to­re bei bestimm­ten Ereig­nis­sen kei­ne Null­li­nie zeig­ten, son­dern aus­schlu­gen – also war da noch Leben nach mei­ner Meinung.

Am fünf­ten Tag bemerk­te ich, dass er auf mei­ne Stim­me reagier­te, die Ärz­te ver­an­lass­ten dar­auf­hin eine Unter­su­chung der Gehirn­ak­ti­vi­tät mit dem Ergeb­nis, dass es kei­ne Hoff­nung gäbe. Sein Gehirn sei abso­lut tot.

Er bekam dann eine Lun­gen­ent­zün­dung, wohl durch die Beatmung, wie man mir sag­te, mit hohem Fie­ber und Schüt­tel­frost. Die dienst­ha­ben­de Ärz­tin ließ ihn mit kal­tem Was­ser ein­sprü­hen, ohne zuge­deckt zu sein lag er nackt dicht am Fens­ter und die Ärz­tin mein­te, viel­leicht kön­ne er so etwas frü­her sterben.

Nach etwa einer Woche wehr­te er sich gegen die künst­li­che Beatmung, er hus­te­te und würg­te. Man beschloss, die Beatmung abzu­stel­len, mit dem Risi­ko, dass er danach wohl ver­ster­ben wür­de. Er atme­te aber wie­der selb­stän­dig und alle waren verwundert.

Wie­der wur­de eine Über­prü­fung der Gehirn­ak­ti­vi­tät ange­setzt, mit dem glei­chen Ergeb­nis: Gehirn abso­lut ohne Funktion.

In den fol­gen­den Tagen konn­te ich beob­ach­ten, dass die Kur­ven der ange­schlos­se­nen Instru­men­te für Herz­tä­tig­keit sich ver­än­der­ten, ganz ein­deu­tig reagier­te er auf mich, auf Schmer­zen beim Absau­gen der Lun­ge, bei Ein­sti­chen an bestimm­ten Stel­len durch die Ärz­te. Die­se erklär­ten mir, dass das eben ganz nied­ri­ge Refle­xe wären, die nichts mit der Gehirn­tä­tig­keit zu tun hätten.

Trotz­dem wach­te mein Mann immer mehr auf: Er beweg­te die Lip­pen, er woll­te spre­chen, aber er war nicht zu ver­ste­hen. Wie­der­um nach weni­gen Tagen ver­stand ich, was er sag­te. Er leb­te anschei­nend in einer Fan­ta­sie­welt, er sprach von Was­ser, von Flüs­sen, die er über­que­ren müs­se, um zu sei­ner Frau zu kom­men. Irgend­je­mand hielt ihn aber fest, so dass er den Fluss nicht über­que­ren konn­te. Ich ver­such­te immer wie­der, zu ihm Kon­takt zu bekom­men und ihm zu sagen, dass er doch ganz sicher sei, im Bett lie­gen wür­de und er kei­ne Angst haben solle.

Und eines Tages war er wach, blick­te um sich, erkann­te mich und konn­te auch wie­der spre­chen, zwar undeut­lich und nur kur­ze Wör­ter, aber er war wie­der ganz auf die­ser Welt.

Die Ärz­te beschimpf­te er aber alle als Dumm­köp­fe, denn er erzähl­te mir, dass ihn ein Arzt in den Kel­ler in einem Kühl­schrank ver­staut hät­te, dann wäre er von total hek­ti­schen Ärz­ten wie­der her­vor­ge­zerrt wor­den und ein Arzt hät­te ihm den Hals auf­ge­schnit­ten, ohne Nar­ko­se oder Schmerz­mit­tel sei er noch ein­mal ope­riert worden.

Als ich das völ­lig ent­setzt dem Ober­arzt auf der Sta­ti­on erzähl­te, wo der Zwi­schen­fall statt­ge­fun­den hat­te, wur­de mir bestä­tigt, dass es so war: er war erst in der Patho­lo­gie, weil er ja tot war, erst der Chef­arzt bestand auf einer erneu­ten OP. Die­se wur­de aus­ge­führt, der Pati­ent beatmet, wohl wis­send, dass er auf­grund des lan­gen Sau­er­stoff­man­gels im Gehirn nie wie­der gesund wer­den würde.

Wie kann ein toter Mensch sehen, was mit ihm pas­siert? War­um kann ein toter Mensch Schmer­zen spüren?

Für mich waren das damals rät­sel­haf­te Din­ge, aber ich muss­te mich dem Leben zuwen­den, mei­nen Mann wie­der mög­lichst gesund pfle­gen, damit das Leben wei­ter gehen konnte.

Mein hirn­to­ter Mann/​Exmann ist durch die­sen Zwi­schen­fall stark kör­per­lich ein­ge­schränkt, es hat lan­ge gedau­ert, bis er wie­der gehen konn­te, aber inzwi­schen ist er zum drit­ten Mal ver­hei­ra­tet und ich den­ke, es geht ihm gut.

Hät­te man ihm damals Orga­ne ent­nom­men, auf­grund der mehr­ma­li­gen Hirn­tod-Dia­gno­se wäre er heu­te nicht mehr am Leben.

Wer Orga­ne spen­det, soll­te wis­sen, dass die Zeit des Ster­bens nicht so weit erforscht ist, dass man sagen kann, was der Mensch wäh­rend die­ser Zeit fühlt und empfindet.

Sicher ist nur, dass der Organ­spen­der unwie­der­bring­lich tot ist nach der Spende.

Eine Freun­din von mir arbei­tet an einer auf Organ­trans­plan­ta­ti­on spe­zia­li­sier­ten Uni als Inten­siv­schwes­ter. Ihre Auf­ga­be war es unter ande­rem, die gesetz­li­chen Hirn­tod-Unter­su­chun­gen durch­zu­füh­ren und zu pro­to­kol­lie­ren. Sie hat mir erzählt, wie schwie­rig es manch­mal ist, eine 20-minü­ti­ge Null­kur­ve im Dia­gramm zu bekom­men, denn manch­mal schlägt der Moni­tor wie­der aus, wenn drau­ßen im Flur Lärm ist, ein Flug­zeug über die Kli­nik don­nert oder jemand zur Türe hereinkommt.

Ich den­ke da immer an mei­nen Exmann, bei dem ich Ähn­li­ches beob­ach­tet habe und der heu­te noch lebt.

Ich mei­ne, Organ­trans­plan­ta­ti­on ist ein gro­ßes Geschäft, das etwas mehr Huma­ni­tät gut ver­tra­gen könnte.