Operation Explantation: ein unbarmherziger Tod

Das Unglück

Im Herbst 1997 hat­te mein Sohn Arnd einen schwe­ren Unfall und muss­te noch am Unfall­ort beatmet wer­den. In der Kli­nik, in der man ein schwe­res Schä­del-Hirn-Trau­ma fest­stell­te, wur­de er gleich in der Nacht ope­riert. Mein Mann und ich erfuh­ren erst am nächs­ten Mor­gen von sei­nem Unglück und erreich­ten nach etwa sechs Stun­den Auto­fahrt das Krankenhaus.

Arnd lag auf der Inten­siv­sta­ti­on, zusam­men mit fünf oder sechs ande­ren Pati­en­ten, er wur­de beatmet, hat­te einen Kopf­ver­band von der Ope­ra­ti­on, war an vie­le Gerä­te ange­schlos­sen und lag wie schla­fend da. Er war in ein künst­li­ches Koma ver­setzt wor­den. An sei­ner rech­ten Schul­ter, die bloß lag, hat­te er eine Prel­lung und über der lin­ken Augen­braue eine Schnitt­wun­de. Am Nach­mit­tag hat­ten wir – das heißt unse­re Schwie­ger­toch­ter, unse­re Toch­ter, mein Mann und ich – ein Gespräch mit der Ärz­tin, die ihn ope­riert hat­te. Sie sag­te, sei­ne Über­le­bens­chan­cen sei­en gering und die Dia­gno­se „Hirn­tod“ sei wahr­schein­lich. Mein Mann sag­te spon­tan, dann wür­de uns wohl die Fra­ge nach einer Organ­spen­de gestellt werden.

Einen oder zwei Tage spä­ter sprach uns die Sta­ti­ons­lei­te­rin an und beglück­wünsch­te uns zu der Ent­schei­dung für eine Organ­spen­de. Wir sag­ten, wir hät­ten noch nicht dar­über gespro­chen, beka­men aber den Ein­druck, wir müss­ten uns so schnell wie mög­lich ent­schei­den. Unse­re Schwie­ger­toch­ter sag­te uns dann wenig spä­ter, Arnd hät­te sich für Organ­spen­de aus­ge­spro­chen. Wir teil­ten das den Ärz­ten mit. Somit waren die Wei­chen für eine Organ­ent­nah­me gestellt, und zwar schon vor der Hirntodfeststellung.

Die Ent­schei­dung

Im Nach­hin­ein fra­ge ich mich, war­um das so ablau­fen konn­te: Mein Mann und ich haben jeden Tag, bis spät in die Nacht, an Arnds Bett geses­sen – abge­se­hen von den Zei­ten, zu denen wir aus der Inten­siv­sta­ti­on geschickt wur­den. Wir haben gere­det, von frü­her erzählt und nicht ein ein­zi­ges Mal das Gefühl gehabt, er sei tot. Sein Gesicht und sei­ne Hän­de waren warm, sein Brust­korb hob und senk­te sich und wir sahen sei­nen Herz­schlag auf dem Moni­tor. Wir hiel­ten sei­ne Hän­de, fass­ten uns über sei­ne Bett­de­cke hin an und waren eine Ein­heit. Ich wuss­te im Inne­ren, dass er ster­ben wür­de, und emp­fand die­se letz­te Zeit mit ihm als kost­bar und begrenzt.

Den Gedan­ken an Organ­ent­nah­me ließ ich nicht zu, denn er pass­te nicht zu mei­nem Erleben.

Vor dem Unfall war mei­ne Ein­stel­lung zur Organ­spen­de eher posi­tiv gewe­sen, im Sin­ne von: „Wenn ich tot bin, brau­che ich mei­ne Orga­ne nicht mehr. Dann kön­nen ande­re Men­schen damit wei­ter­le­ben.“ Dass wir über eine mög­li­che Organ­ent­nah­me bei einem unse­rer Kin­der ent­schei­den müss­ten, dar­an hat­te ich nie gedacht. Dass wir nicht nach unse­rer eige­nen Ein­stel­lung dazu gefragt wür­den, son­dern nach sei­nem mut­maß­li­chen Wil­len, das wuss­ten wir nicht. Mein Inne­res sag­te mir, dass ich eine Organ­ent­nah­me über­haupt nicht woll­te, aber das schien nicht zu zählen.

Mei­ne Toch­ter, die zwi­schen­zeit­lich zu Hau­se gewe­sen war und zwei Tage spä­ter in die Kli­nik zurück­kam, pro­tes­tier­te hef­tig gegen unse­re vor­weg­ge­nom­me­ne Zustim­mung zur Organ­ent­nah­me und sag­te erschüt­tert: „Er ist doch kei­ne Organ­bank!“ Ich hör­te ihren Pro­test, ver­stand sie, aber stand ihr nicht bei. Denn über allem stand sei­ne münd­li­che Erklä­rung für die Organspende.

Am nächs­ten Tag brach bei mir das­sel­be Ent­set­zen aus. Wir rede­ten und kamen zu der Ent­schei­dung, dass wir die Zustim­mung zur Organ­ent­nah­me zurück­neh­men wür­den, wenn sie nicht noch an die­sem Tag erfolg­te. Damit haben wir den Ärz­ten die Ver­ant­wor­tung über­ge­ben und sie unter Zeit­druck gesetzt. Unser ster­ben­der Sohn wur­de noch schutzloser.

Das The­ma „Organ­trans­plan­ta­ti­on“ stand von Beginn an im Raum und hat den Abschied zusätz­lich belas­tet. Uns war anfangs nicht klar, dass offi­zi­ell erst nach der Hirn­tod­fest­stel­lung die Fra­ge nach einer Organ­spen­de gestellt wer­den darf, wie es dann auch die Trans­plan­ta­ti­ons­ko­or­di­na­to­rin tat. Ihre Fra­ge lau­te­te: „War Ihr ver­stor­be­ner Mann, Ihr Sohn, Ihr Bru­der sozi­al ein­ge­stellt?“ Wer kann gleich nach der Todes­nach­richt die­ser Sug­ges­tiv­fra­ge wider­ste­hen und die Ver­mu­tung auf­kom­men las­sen, der Ange­hö­ri­ge sei womög­lich unso­zi­al gewe­sen? Wer hat die Kraft, die ange­bo­te­ne Trös­tung abzu­leh­nen, dass der Tod die­ses gelieb­ten Men­schen nicht sinn­los sei, indem er das Leben ande­rer ret­ten kön­ne? Und wer hat in die­ser exis­ten­zi­el­len Not­si­tua­ti­on die Klar­heit, die eige­nen Wider­stän­de wahr­zu­neh­men und ernst zu neh­men? Ich hat­te die­se unse­re münd­li­che Zustim­mung schon vor­her gege­ben hatten.

Die offi­zi­el­len Informationen

Sich infor­mie­ren und dann ent­schei­den!“, so lau­tet eine Auf­for­de­rung in der Bro­schü­re „Wie ein zweites
Leben“ von der Bun­des­zen­tra­le für gesund­heit­li­che Auf­klä­rung. Infor­mie­ren konn­ten wir uns in die­ser Situa­ti­on nicht. Wir beka­men im Kran­ken­haus auch kei­ne Hin­wei­se dar­über, wie eine Organ­ent­nah­me abläuft und dass eine Ster­be­be­glei­tung nicht mög­lich Wenn wir alle, auch unser Sohn, uns aber vor­her infor­miert hät­ten mit Hil­fe des von der Bun­des­zen­tra­le für gesund­heit­li­che Auf­klä­rung emp­foh­le­nen Infor­ma­ti­ons­ma­te­ri­als, wären wir wahr­schein­lich zu kei­ner ande­ren Ent­schei­dung gekom­men. Denn was Organ­ent­nah­me für den hirn­to­ten Organ­spen­der und sei­ne Ange­hö­ri­gen wirk­lich bedeu­tet, geht aus den Infor­ma­tio­nen und dem Organ­spen­de­aus­weis nicht hervor.

Die Zwei­fel

Eini­ge Zeit nach sei­nem Tod began­nen mei­ne Alp­träu­me. In vie­len Träu­men durch­leb­te ich, dass er nicht rich­tig begra­ben war, dass sei­ne Lei­che in einem Aqua­ri­um trieb oder dass sein Leich­nam aus dem Grab ver­schwun­den war. Mir wur­de dadurch ein­dring­lich bewusst, dass mich zusätz­lich zur Trau­er um sei­nen Tod die Zustim­mung zur Organentnahme
belas­te­te. Ich hat­te Schuld­ge­füh­le, weil ich ihn nicht davor beschützt hat­te, und ver­schloss alles in mir. Erst nach lan­ger Zeit konn­te ich dar­über reden, zuerst mit der Fami­lie, dann mit Freun­den. Schließ­lich fand ich im Inter­net eine Web­site mit Berich­ten von Eltern, die ähn­li­che Erfah­run­gen gemacht hat­ten. Das habe ich als eine gro­ße Erleich­te­rung erlebt, und danach habe ich mich umfas­send informiert.

Im Organ­spen­de­aus­weis der Bun­des­zen­tra­le für gesund­heit­li­che Auf­klä­rung heißt es: „Für den Fall, dass nach mei­nem Tod eine Spen­de von Organen/​Geweben in Fra­ge kommt…“ Dar­in wird weder der Hirn­tod als Vor­aus­set­zung für eine Organ­ent­nah­me genannt, noch wird erklärt, wel­che Orga­ne oder Gewe­be für eine Ent­nah­me in Fra­ge kommen.

Die Akte

Etwa fünf Jah­re nach sei­nem Tod fand ich den Mut, an die Kli­nik zu schrei­ben und das Recht auf Akten­ein­sicht wahr­zu­neh­men. Die Kopien habe ich, über einen lan­gen Zeit­raum ver­teilt, immer dann gele­sen, wenn ich die Kraft dazu hat­te, und mit dem Trans­plan­ta­tions­ge­setz ver­gli­chen. Das Hirn­tod­pro­to­koll ist das ent­schei­den­de Doku­ment, das nach vor­lie­gen­der Zustim­mung des „Hirn­to­ten“ oder der Ange­hö­ri­gen zu einer Organ­ent­nah­me berechtigt.

Dies sind die wich­tigs­ten Vor­aus­set­zun­gen für ein Hirn­tod­pro­to­koll bei einer Hirn­schä­di­gung, wie sie mein Sohn hatte:

  • Zwei kli­ni­sche Unter­su­chun­gen von zwei von­ein­an­der unab­hän­gi­gen Fach­ärz­ten, die mit der Organ­ent­nah­me nichts zu tun haben dürfen.
  • Zwi­schen den bei­den kli­ni­schen Unter­su­chun­gen muss eine War­te­zeit von min­des­tens 12 Stun­den ein­ge­hal­ten werden.
  • Die War­te­zeit kann ver­kürzt wer­den, wenn statt der 2. kli­ni­schen Unter­su­chung eine appa­ra­ti­ve Unter­su­chung, z.B. ein Null-Lini­en-EEG, vor­ge­nom­men wird.
  • Vor der ers­ten Hirn­tod­un­ter­su­chung muss sicher gestellt sein, dass kei­ne Medi­ka­men­te mehr im Kör­per sind, die ein tie­fes Koma vor­täu­schen könnten.

Fast alle Inten­siv- und Not­fall­pa­ti­en­ten wur­den vor ihrer Hirn­tod­fest­stel­lung vom Not­arzt mit Seda­ti­va (Beru­hi­gungs­mit­teln) und Nar­ko­ti­ka (Schlaf­mit­tel zur Nar­ko­se) behan­delt. Die­se Medi­ka­men­te wer­den bei Schwer­ver­letz­ten schlech­ter abge­baut mit der Fol­ge, dass sie viel (manch­mal wochen­lang!) län­ger wir­ken als nor­mal… Ande­rer­seits kann ein ech­ter Hirn­tod durch Behand­lungs­feh-ler ent­ste­hen oder bei „Schwel­len­pa­ti­en­ten“ bewusst her­bei­ge­führt wer­den. Das sind zwei von meh­re­ren Grün­den, war­um ich strik­ter Geg­ner des Hirn­tod-Ansat­zes bin.“
Dr. A. Jae­ckel, Deut­sches Medi­zin Forum, Bad Nauheim

Und dies sind die Ver­stö­ße gegen das Trans­plan­ta­tions­ge­setz, die ich in den Akten gefun­den habe:

  • Zwi­schen der ers­ten und der zwei­ten kli­ni­schen Hirn­tod­un­ter­su­chung lagen nicht 12 Stun­den, son­dern 2 Stun­den und 45 Minuten!
  • Ein zusam­men­fas­sen­der Bericht (Epi­kri­se), ver­fasst am 9.9.1999, also fast zwei Jah­re nach der Organ­ent­nah­me, erwähnt ein Null-Lini­en-EEG, das angeb­lich bei mei­nem Sohn vor­ge­nom­men wur­de. Im ent­schei­den­den Doku­ment, dem Hirn­tod­pro­to­koll, ist jedoch kein Null-Lini­en-EEG auf­ge­führt. Auch in den Akten fan­den sich kei­ne EEG-Auf­zeich­nun­gen. Die Explan­ta­ti­on hät­te nach dem vor­lie­gen­den unvoll­stän­di­gen Hirn­tod­pro­to­koll gar nicht durch­ge­führt wer­den dürfen!
  • Mein Sohn war nach der Kopf­ope­ra­ti­on in ein künst­li­ches Koma ver­setzt wor­den. Das Che­misch-Toxolo­gi­sche Gut­ach­ten ergab einen Befund von 1.24 mg/​l Thio­pen­tal. In der Beur­tei­lung des Gut­ach­ters steht: „Es erge­ben sich Hin­wei­se für eine Auf­nah­me von Thio­pen­tal (Tra­pa­nal). Eine wei­ter­füh­ren­de Beur­tei­lung behal­ten wir uns vor.“ Die koor­di­nie­ren­de Ärz­tin hat­te uns gesagt, der Wert müs­se vor der ers­ten Hirn­tod­un­ter­su­chung unter 1,0 lie­gen. Beim Ver­gleich der Zeit­ab­läu­fe stel­le ich fest: Das Fax mit dem Gut­ach­ten wur­de von der Rechts­me­di­zin um 18.29 Uhr abge­schickt. Es wur­de um 18.36 in der Kli­nik emp­fan­gen. Die ers­te Hirn­tod-Unter­su­chung begann um 18.45 Uhr. Das heißt, sie haben das Ergeb­nis des Gut­ach­tens, das eine wei­ter­füh­ren­de Beur­tei­lung vor­sah, über­haupt nicht berücksichtigt!

Dies sind ein­deu­tig gra­vie­ren­de Ver­stö­ße gegen das Trans­plan­ta­tions­ge­setz. Mein Sohn war zwar vor Inkraft­tre­ten des Trans­plan­ta­ti­ons­ge­set­zes explan­tiert wor­den, aber man hat­te uns zuge­si­chert, sie wür­den sich an das vom Par­la­ment ver­ab­schie­de­te Gesetz hal­ten. Außer­dem gal­ten vor Inkraft­tre­ten die Richt­li­ni­en der Bun­des­ärz­te­kam­mer mit den glei­chen Bestimmungen.

In der Leit­li­nie Anäs­the­sio­lo­gie: Erklä­rung zum Hirn­tod (www​.uni​-dues​sel​dorf​.de) steht:
„Nach dem Hirn­tod gibt es kein Schmerz­emp-fin­den mehr. Des­halb sind nach dem Hirn­tod kei­ne Maß­nah­men zur Schmerz­ver­hü­tung (z.B. Nar­ko­se) nötig. Die Tätig­keit eines Anäs­the­sis­ten bei der Organ­ent­nah­me – zu Maß­nah­men wie z.B. der künst­li­chen Beatmung, der Kon­trol­le der Herz­tä­tig­keit und des Kreis­laufs sowie der not­wen­di­gen Ruhig­stel­lung der Mus­ku­la­tur – dient aus­schließ­lich der Erhal­tung der Funk­ti­ons­fä­hig­keit der zu ent­neh­men­den Organe.“

Im Fol­gen­den beschrei­be ich Vor­ge­hens­wei­sen, die zwar im Ein­klang mit dem Trans­plan­ta­tions­ge­setz ste­hen, mich aber beson­ders erschüt­tert haben:

  1. Auf dem Ope­ra­ti­ons­pro­to­koll steht „Nar­ko­se­pro­to­koll“. Dar­aus schloss ich, dass mein Sohn wäh­rend der Organ­ent­nah­me nar­ko­ti­siert wur­de. Doch Anäs­the­sis­ten, denen ich das Ope­ra­ti­ons­pro­to­koll gezeigt habe, stell­ten fest, dass mein Sohn zwar mus­kel­ent­span­nen­de Mit­tel, aber kei­ne Nar­ko­se und kei­ne Schmerz­mit­tel erhal­ten hat. Die neben­ste­hen­de Erklä­rung dazu kann mich kei­nes­wegs beru­hi­gen, denn auch Medi­zi­ner kön­nen ein Schmerz­emp­fin­den nicht aus­schlie­ßen, weil das voll­stän­di­ge Ver­sa­gen des Gehirns nicht nach­weis­bar ist. Bei Organ­ent­nah­men wur­den immer wie­der Haut­rö­tun­gen, Schwit­zen, Blut­druck­an­stieg und Abwehr­be­we­gun­gen beim Ein­schnitt in den Kör­per fest­ge­stellt. Das sind bei ande­ren Ope­ra­tio­nen Anzei­chen für Schmerz, nur bei „hirn­to­ten“ Organ­spen­dern wer­den sie als bedeu­tungs­lo­se Reak­tio­nen ange­se­hen. Die Vor­stel­lung, dass mein Sohn bei leben­di­gem Leib ohne Rück­sicht auf noch mög­li­che Schmerz­emp­fin­dun­gen ohne Voll­nar­ko­se explan­tiert wur­de, ist unerträglich.
  2. Bei mei­nem Sohn wur­de drei­mal die kli­ni­sche Hirn­tod­dia­gnos­tik vor­ge­nom­men, und zwar um 18.45 Uhr, um 21.30 Uhr und noch ein­mal ohne Zeit­an­ga­be, ver­mut­lich kurz vor der Explan­ta­ti­on. Zu einer kli­ni­schen Unter­su­chung gehö­ren Rei­ze mit Instru­men­ten, das Set­zen von Schmerz­rei­zen, indem der Unter­su­chen­de mit einer Nadel in die Nasen­schei­de­wand sticht und indem 4 Grad kal­tes Was­ser in die Ohren gespült wird. Außer­dem wird jedes Mal der Apnoe-Test gemacht: Dabei wird dem hirn­ver­letz­ten Pati­en­ten die künst­li­che Beatmung für bis zu zehn Minu­ten ent­zo­gen, um fest­stel­len zu kön­nen, ob er selbst­stän­dig zu atmen beginnt. Die­se Unter­su­chung beein­träch­tigt nach Aus­sa­ge von Ärz­ten ein­deu­tig die mög­li­che Erho­lung eines hirn­ver­letz­ten Pati­en­ten und kann sogar den Tod des Pati­en­ten her­vor­ru­fen. Bei der Tagung der Päpst­li­chen Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten in Rom 2005 wur­de die For­de­rung erho­ben, den Apnoe-Test als unethi­sches medi­zi­ni­sches Ver­fah­ren zu ver­ur­tei­len und für unge­setz­lich zu erklären.Und die­se Quä­le­rei muss­te mein im Ster­ben lie­gen-der Sohn drei­mal über sich erge­hen lassen!
  3. Wann war er end­gül­tig tot? Auf dem Hirn­tod­pro­to­koll ist als Todes­zeit­punkt 22.01 Uhr ange­ge­ben. Im Nar­ko­se­pro­to­koll von der Explan­ta­ti­on fin­de ich die Begrif­fe „Kar­dio­ple­gie
    (= künst­lich her­bei­ge­führ­ter Herz­still­stand), Blut­lee­re, Hypo­ther­mie (= Küh­lung der Orga­ne durch Per­fu­si­ons­lö­sung von 4 Grad): Organ­ent­nah­me“, ein­ge­tra­gen um 3.20 Uhr. Unmit­tel­bar vor der Ent­nah­me hat man sein Blut aus dem Kör­per gespült und statt­des­sen eine vier Grad kal­te Kon­ser­vie­rungs­flüs­sig­keit durch die Orga­ne gelei­tet bei gleich­zei­ti­ger äuße­rer Küh­lung der Orga­ne im Kör­per. Danach wur­de sein immer noch schla­gen­des Herz zum Still­stand gebracht. Mein Sohn starb also einen Tag spä­ter um 3.20 Uhr. Der Todes­tag auf sei­nem Grab­stein ist falsch!
  4. Was hat man mit ihm gemacht in der Zeit zwi­schen dem Beginn der Explan­ta­ti­on, sei­nem her­bei­ge­führ­ten Herz­still­stand und dem Ende der Ope­ra­ti­on, in 3 Stun­den und 45 Minu­ten? Im Inter­net habe ich eine Web­site gefun­den, in der es um die Ent­nah­me der Bauch­spei­chel­drü­se ging. Dar­in wird gesagt, dass auch der Zwölf­fin­ger­darm dabei ent­nom­men wer­den muss. An ande­rer Stel­le las ich, dass Tei­le der Milz oder Lymph­kno­ten ent­nom­men wer­den, um die Gewe­be­ver­träg­lich­keit mit den mög­li­chen Emp­fän­gern abglei­chen zu kön­nen. Die Kli­nik, in der mein Sohn explan­tiert wur­de, ist als Aka­de­mi­sches Lehr­kran­ken­haus einer Uni­ver­si­tät ange­glie­dert. Daher befürch­te ich, dass sie zusätz­lich zu den frei­ge­ge­be­nen Orga­nen – Herz, Leber, Nie­ren und Bauch­spei­chel­drü­se – noch ande­re Gewe­be­tei­le ent­nom­men haben. Denn die­se sind nicht zustim­mungs­pflich­tig und sind nütz­lich für Trans­plan­ta­tio­nen, For­schung und Pharmaindustrie.

Es ist in der Tat nicht zu bele­gen, dass eine für hirn­tot erklär­te Per­son tat­säch­lich über kei­ner­lei Wahr­neh­mungs­ver­mö­gen, ins­be­son­de­re Schmerz­emp­find­lich­keit verfügt.“
- Prof. Dr. med. W. Lau­chert, Geschäfts­füh­ren­der Arzt der DSO in einem Schrei­ben vom 25.9.2000 an die Pas­to­rin Ines Odaischiv

Auf einer Web­site der Ethik-Kom­mis­si­on Göt­tin­gen steht ein Text zur „Durch­füh­rung von For­schungs­vor­ha­ben an Hirn­to­ten“. Es wird gesagt, es sei wün­schens­wert, „dass vor Beginn von medi­zi­ni­schen Ver­su­chen an Hirn­to­ten eine Bera­tung durch die Ethik-Kom­mis­si­on erfolgt“. Aber die Berech­ti­gung, Hirn­to­te für Ver­su­che zu ver­wen­den, wird nicht grund­sätz­lich in Fra­ge gestellt. Außer­dem sind die Emp­feh­lun­gen von Ethik-Kom­mis­sio­nen nicht ver­pflich­tend. Was hat man noch von mei­nem Sohn ver­wer­ten kön­nen? Zum Bei­spiel Samen­flüs­sig­keit? Oder haben sie doch die Augen ent­fernt, obwohl wir deren Ent­nah­me aus­ge­schlos­sen hat­ten? Ich fin­de eine Web­site, in der beschrie­ben wird, wie die Augen­ent­nah­me durch ein­ge­setz­te Glas­au­gen geschickt kaschiert wer­den kann. Auch die Gehör­knö­chel­chen hät­te man ent­neh­men kön­nen, ohne dass wir es bemerkt hät­ten. Er hat­te ja nach der Kopf­ope­ra­ti­on einen Kopf­ver­band. Hat man mei­nen Sohn wäh­rend der Explan­ta­ti­on viel­leicht gefilmt, für Lehr­zwe­cke? Nie­mand war da, um ihn zu schüt­zen! Ich sehe ihn wie­der vor mir, auf­ge­bahrt im Sarg, sein Mund klein und ver­krampft. Er hat­te kei­nen fried­vol­len, gelös­ten oder erns­ten Gesichts­aus­druck wie ande­re Tote, die ich gese­hen habe, son­dern sah aus, als wäre er unter Schmer­zen gestorben.

Ärz­te­zei­tung, 29.10.2004, Kom­men­tar: „Juris­ti­sche Grau­zo­nen“ von Nico­la Siegmund-Schulze:
„Zel­len und Gewe­be sind seit lan­gem wert­voll für die Medi­zin … Das Trans­plan­ta­tions­ge­setz von 1997 hat Klar­heit nur zum Teil geschaf­fen. Es bezieht sich zwar auf Orga­ne und Gewe­be, regelt aber kon­kret im wesent­li­chen, wie soli­de Orga­ne ent­nom­men, ver­teilt und ver­wen­det wer­den dür­fen. Ein Bei­spiel: Das Gesetz schließt den Han­del mit Orga­nen aus. Aber vie­le Gewe­be wie Knor­pel, Haut oder Fas­zi­en wer­den trotz­dem erwor­ben, wei­ter­ver­ar­bei­tet und ver­kauft – das ist vor Ver­ab­schie­dung des Geset­zes so gewe­sen und danach ebenso…“

Wie wäre er sonst gestorben?

Wenn wir nach der Hirn­tod­fest­stel­lung eine Organ­ent­nah­me abge­lehnt hät­ten, wäre kurz danach die Beatmung abge­stellt wor­den. Sein Herz hät­te noch stun­den­lang wei­ter­schla­gen kön­nen, so sag­te man uns nach der Todes­nach­richt, und er wäre erstickt – das ist, wie wir spä­ter hör­ten, eine Lüge. In Berich­ten von Ärz­ten und Pfle­gern fin­de ich Beschrei­bun­gen von einem hef­ti­gen Todes­kampf, bei dem vie­le mei­nen, es sei den Ange­hö­ri­gen nicht zumut­bar, dabei zu sein. Ich fra­ge mich, ob nicht erst die Spen­der­kon­di­tio­nie­rung (d.h. inten­si­ve medi­zi­ni­sche Behand­lung zur Erhal­tung der Orga­ne), die einen hirn­to­ten Ster­ben­den mit allen Mit­teln bis zur Organ­ent­nah­me im Leben hält, die­sen qual­vol­len Todes­kampf her­bei­führt. Denn die Spen­der­kon­di­tio­nie­rung muss laut Ärz­te­blatt schon beim „kli­ni­schen Ein­druck des Hirn­to­des beginnen“.

Im Ärz­te­blatt (www​.aerz​te​blatt​.de/​v​4​/​a​r​c​h​i​v​/​a​r​t​i​k​e​l​.​a​s​p​?​i​d​=​45240) ist die Rede von
„einem sorg­fäl­ti­gen und vor­aus­schau­en­den Umgang mit dem tief koma­tö­sen Pati­en­ten, der nach Abschluss der Hirn­tod­be­stim­mung sowie der Bera­tung mit den Ange­hö­ri­gen ein Organ­spen­der wer­den könnte… “

Die­se Behand­lung eines tief koma­tö­sen Pati­en­ten als poten­zi­el­len Organ­spen­der schon vor der Hirn­tod­fest­stel­lung ver­stößt gegen das Transplantationsgesetz!

Oder mein Sohn wäre ohne Spen­der­kon­di­tio­nie­rung bei künst­li­cher Beatmung wegen Lun­gen­ver­sa­gens an einem Herz-Kreis­lauf-Still­stand gestor­ben. Im Nach­hin­ein weiß ich, dass es bes­ser gewe­sen wäre, wenn mein Sohn schon vor Abschal­ten der Beatmung gestor­ben wäre, aber in bei­den Fäl­len hät­ten wir ihn bis zuletzt beglei­ten können.

Der soge­nann­te Hirntod

Hirn­tod“ bedeu­te­te für mich vor dem Unglück den Tod des Men­schen, wie es der Begriff auch nahe legt. Das habe ich nicht hin­ter­fragt. Doch bei mei­nem Sohn hat­te ich nicht einen Moment das Gefühl, er sei tot. Er sah leben­dig aus und wur­de die gan­ze Zeit über inten­siv behan­delt und ver­sorgt. Er wür­de ster­ben, das befürch­te­te ich. Und einen Ster­ben­den lässt man übli­cher­wei­se nicht allein, son­dern beglei­tet ihn bis zum Tod und über den Tod hin­aus. Trotz­dem konn­te ich der Fest­stel­lung, er sei tot, nichts ent­ge­gen­set­zen. War­um nicht? Die­se Fra­ge lässt mich nicht los. Auf der Suche nach einer Ant­wort mache ich die extre­me Schock­si­tua­ti­on ver­ant­wort­lich, in der wir uns befan­den. Aber das ist es nicht allein. Ich den­ke, mein Ver­sa­gen hat noch mit etwas Ande­rem zu tun: „Organ­spen­de ret­tet Leben“, „Leben wei­ter­ge­ben“ und „Schen­ken Sie Leben“ sind zu ste­hen­den Rede­wen­dun­gen und ein­gän­gi­gen Bil­dern gewor­den, die sich unmerk­lich ein­ge­gra­ben haben in unse­ren Wort­schatz und unser Wer­te­sys­tem. Auch die Kir­chen haben bekräf­tigt, dass Organ­spen­de im Namen der Nächs­ten­lie­be erfol­gen kann. Wie kann ich etwas, was so gut und segens­reich zu sein scheint, in Fra­ge stel­len? Doch die Dis­kre­panz zwi­schen dem, was an Posi­ti­vem mit der Organ­spen­de von Hirn­to­ten ver­knüpft wird, und mei­nem eige­nen Erle­ben ist unüberwindlich.

…Da soge­nann­te Hirn­to­te kei­ne Lei­chen sind, son­dern Men­schen, die infol­ge eines bestimm­ten Organ­ver­sa­gens in abseh­ba­rer Zeit zwar tot sein wer­den, aber in der Jetzt­zeit noch nicht zu Ende gestor­ben sind, benö­ti­gen sie eine beson­de­re Beglei­tung. Im Ster­ben wird noch inten­siv gelebt, ein Leben, das den Explan­tier­ten und ihrem sozia­len Umfeld zu einem gro­ßen Teil ent­zo­gen wird…“
- Prof. Dr. Fran­co Rest

Mein Ent­set­zen

Mich macht wütend, dass die Trans­plan­ta­ti­ons-Orga­ni­sa­tio­nen auf eine umfas­sen­de Infor­ma­ti­on der mög­li­chen Organ­spen­der und der Öffent­lich­keit ver­zich­ten. Sie ver­wei­gern auch Infor­ma­tio­nen dar­über, dass der soge­nann­te Hirn­tod nicht der Tod ist, den wir bis­her gekannt haben. Und sie sagen nicht, dass Organ­ent­nah­me eine Ster­be­be­glei­tung durch die Ange­hö­ri­gen unmög­lich macht. Statt­des­sen set­zen sie auf eine gro­ße Akzep­tanz in der Bevöl­ke­rung, weil Organ­trans­plan­ta­tio­nen kran­ken Men­schen das Leben ver­län­gern oder erheb­lich erleich­tern kön­nen. Und im Ernst­fall wer­den unin­for­mier­te Ange­hö­ri­ge von Hirn­to­ten dann über­rum­pelt, so wie es uns ergan­gen ist. Ich füh­le mich miss­braucht durch eine Medi­zin, die einen neu­en Todes­be­griff ein­führt und Men­schen, deren Gehirn unum­kehr­bar geschä­digt ist, vor­zei­tig für tot erklärt, indem man sie auf­teilt in eine tote Per­son einer­seits und einen leben­den Rest­kör­per ande­rer­seits. Die Hirn­tod­dia­gno­se – wie es das 1997 vom Bun­des­tag ver­ab­schie­de­te Trans­plan­ta­tions­ge­setz besagt – ermög­licht nach der Zustim­mung den Zugriff auf den Hirn­to­ten und die Ver­wer­tung des „Rest­kör­pers“. Mein Sohn war kein Rest­kör­per, son­dern ein ster­ben der Mensch, der unse­re lie­be­vol­le Beglei­tung und Schutz vor Mani­pu­la­tio­nen in sei­nem Ster­be­pro­zess gebraucht hät­te. Ich hät­te uns behan­deln­de Ärz­te gewünscht, die offen mit uns über die Kon­se­quen­zen einer Organ­ent­nah­me gere­det hät­ten. Aber das Trans­plan­ta­tions­ge­setz ver­pflich­tet Ärz­te dazu, poten­zi­el­le Organ­spen­der zu mel­den. Inten­siv­me­di­zi­ner ste­hen dadurch vor dem Dilem­ma, das Wohl des ihnen anver­trau­ten ster­ben­den Pati­en­ten gegen das Wohl von poten­zi­el­len Organ­emp­fän­gern abwä­gen zu müs­sen. Ich wün­sche mir vie­le muti­ge Ärz­te und Pfle­ge­kräf­te, die sich dem gesell­schaft­li­chen Druck wider­set­zen, Men­schen mit Hirn­ver­sa­gen unter dem Aspekt der Ver­wert­bar­keit für ande­re zu sehen und zu behan­deln. Das Grund­recht der Men­schen, gera­de in der letz­ten Lebens­zeit unbe­hel­ligt zu blei­ben von den Ansprü­chen Drit­ter, ist durch das Trans­plan­ta­tions­ge­setz außer Kraft gesetzt wor­den. Mir bleibt das Ent­set­zen dar­über, dass mein Sohn Arnd einen gewalt­sa­men Tod hat­te. Jetzt muss ich mit dem Gesche­he­nen leben. Mei­ne Hoff­nung ist, dass ich ande­re Men­schen dazu anre­gen kann, sich auch die Sei­te der Spen­der und ihrer Fami­li­en anzu­se­hen. Dann kön­nen sie im Ernst­fall hof­fent­lich eine Ent­schei­dung tref­fen, mit der sie im Ein­klang sind.