Anna Bergmann: Widerspruchslösung – die Entrechtung sterbender Intensivpatienten und ihrer Angehörigen

Der Bun­des­rat for­dert mit dem Ent­wurf eines Geset­zes zur Ein­füh­rung der Wider­spruchs­lö­sung (Bun­des­tag Drs. 20/12609) eine Novel­lie­rung des Trans­plan­ta­ti­ons­ge­set­zes, um die just am 1. März 2022 in Kraft getre­te­ne, umfang­reich refor­mier­te Ent­schei­dungs­lö­sung abzu­schaf­fen. Die­se Rege­lung beruht auf der seit 1997 gül­ti­gen Erwei­ter­ten Zustim­mungs­lö­sung, die sich noch auf die im Bür­ger­li­chen Gesetz­buch (BGB) ver­an­ker­ten Pati­en­ten­rech­te bezieht: Behan­deln­de Ärz­tin­nen und Ärz­te sind grund­sätz­lich ver­pflich­tet, eine infor­mier­te Ein­wil­li­gung zu medi­zi­ni­schen Maß­nah­men ein­zu­ho­len. Denn jeder ärzt­li­che Heil­ein­griff gilt zunächst als Tat­be­stand einer Kör­per­ver­let­zung (z.B. Ope­ra­tio­nen, dia­gnos­ti­sche, Injek­tio­nen, Ver­ab­rei­chung von Medi­ka­men­ten). Sind Pati­en­ten nicht zustim­mungs­fä­hig und liegt von ihnen kei­ne Pati­en­ten­ver­fü­gung (§ 1827 Abs. 1 S. 1 BGB) vor, in der die betref­fen­den Maß­nah­men gestat­tet oder unter­sagt sind (§ 630d Abs. 1 S. 1 und 2 BGB), muss bei einer dazu berech­tig­ten Per­son – einem Bevoll­mäch­tig­tem oder Betreu­er – das Ein­ver­ständ­nis ein­ge­holt werden.

Dies gilt auch für eine Organ­spen­de. Denn die Mög­lich­keit einer Organ­ent­nah­me wird in einer hoch­kom­ple­xen Behand­lungs­si­tua­ti­on auf der Inten­siv­sta­ti­on noch zu Leb­zei­ten von poten­zi­el­len Organ­spen­dern bespro­chen und ent­schie­den. Die betref­fen­den Koma­pa­ti­en­ten befin­den sich in die­ser Pha­se als Ster­ben­de nicht nur medi­zi­nisch, son­dern auch juris­tisch im Sta­tus von leben­den Men­schen. Unab­hän­gig von ihren beson­de­ren Eigen­schaf­ten, genie­ßen sie das Recht auf Leben und kör­per­li­che Unver­sehrt­heit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 Grundgesetz).

Hin­zu tritt die Beson­der­heit einer Organ­spen­de: Im Rah­men des sog. Organ­spen­de­pro­zes­ses erfol­gen sämt­li­che ärzt­li­chen Ein­grif­fe nicht als heil­the­ra­peu­ti­sche Maß­nah­men zum Wohl der betref­fen­den Pati­en­ten. Das spe­zi­ell auf die Organ­spen­de zuge­schnit­te­ne inten­siv­me­di­zi­ni­sche Behand­lungs­kon­zept wird in der Regel bereits vor der (Hirn-)Todesfeststellung ein­ge­lei­tet und dient dem allei­ni­gen Fremd­zweck: der Gewin­nung von Orga­nen zuguns­ten ande­rer Patienten.

Wider­spruchs­lö­sung – die kon­se­quen­te Igno­ranz medi­zin­ethi­scher Rechts­nor­men und Rege­lun­gen des Bür­ger­li­chen Gesetzbuches

Die Ein­füh­rung der Wider­spruchs­lö­sung käme einer gro­ßen Wen­de in der Pra­xis der Organ­ge­win­nung gleich, denn jeder Bun­des­bür­ger dürf­te auto­ma­tisch zum poten­zi­el­len Organ­spen­der gemacht und einer Organ- und Gewe­be­ent­nah­me unter­zo­gen wer­den – es sei denn, er hat vor­her aktiv wider­spro­chen. Die­se Rege­lung wür­de die im BGB ver­an­ker­ten Pati­en­ten­rech­te und medi­zin­recht­li­chen Rege­lun­gen zur Behand­lungs­ein­wil­li­gung aus­höh­len. Ver­tre­ter der Wider­spruchs­re­ge­lung neh­men für das Ziel ‚Erhö­hung der Organ­spen­der­zah­len‘ eine Ent­rech­tung der Pati­en­ten und ihrer Ange­hö­ri­gen in Kauf. Sie erlau­ben sich eine kon­se­quen­te Igno­ranz der Grund­sät­ze der Pati­en­ten­au­to­no­mie, der medi­zi­ni­schen Ethik, aber auch der Rech­te von Ange­hö­ri­gen eines ster­ben­den und toten Menschen.

Dazu zäh­len:

  • die ärzt­li­che Auf­klä­rungs­pflicht bei medi­zi­ni­schen Eingriffen;
  • das Selbst­be­stim­mungs­recht von Pati­en­ten (Pati­en­ten­au­to­no­mie);
  • Grund­sät­ze der ärzt­li­chen Sterbebegleitung;
  • das über den Tod hin­aus­rei­chen­de Per­sön­lich­keits­recht und der Schutz der Totenruhe;
  • das Recht der Ange­hö­ri­gen auf Toten­für­sor­ge und Wah­rung der Pietät;
  • das elter­li­che Sor­ge­recht für Min­der­jäh­ri­ge ab dem 14. voll­ende­ten Lebensjahr;
  • das ärzt­li­che Gelöb­nis, jede medi­zi­ni­sche Hand­lung aus­schließ­lich auf das Wohl des behan­del­ten Pati­en­ten auszurichten.

Wider­spruchs­lö­sung – eine Demon­ta­ge der gesetz­li­chen Rege­lun­gen zur Auf­klä­rung und Ein­wil­li­gung bei medi­zi­ni­schen Eingriffen

Die ärzt­li­che Auf­klä­rung muss eine ver­ständ­li­che Erklä­rung von sämt­li­chen Umstän­den der medi­zi­ni­schen Behand­lung beinhal­ten (§ 630e Abs. 1 S. 1 u. 2 BGB), um eine Grund­la­ge für die Ein­wil­li­gungs­fä­hig­keit und selbst­ver­ant­wort­li­che Ent­schei­dungs­frei­heit der Pati­en­ten zu bilden.

Für die the­ra­peu­ti­schen Behand­lungs­schrit­te im Rah­men einer Organ­spen­de heißt dies: Die eigens für die Explan­ta­ti­on ent­wi­ckel­te ‚spen­de­zen­trier­te The­ra­pie‘ von poten­zi­el­len Organ­spen­dern beginnt nicht erst mit der chir­ur­gi­schen Ent­fer­nung ein­zel­ner Orga­ne im Ope­ra­ti­ons­saal, son­dern sehr viel frü­her auf der Inten­siv­sta­ti­on: Wenn sich her­aus­stellt, dass die Inten­siv­me­di­zin das Leben von Koma­pa­ti­en­ten mit einer Hirn­schä­di­gung z.B. nach einer Hirn­blu­tung, Sport­ver­let­zung oder einem Schlag­an­fall nicht mehr ret­ten kann, ist in Abspra­che mit den Ange­hö­ri­gen von den behan­deln­den Ärz­ten der mut­maß­li­che Pati­en­ten­wil­le zu ermit­teln, um die wei­te­re Behand­lung des ster­ben­den Men­schen in die Wege lei­ten zu können.

Wie auch das refor­mier­te Trans­plan­ta­tions­ge­setz durch die zeit­lich vor­ver­leg­te Berech­ti­gung zur Ein­sicht in das Organ- und Gewe­be­spen­de­re­gis­ter (§ 2a Abs. 4 S. 2 Nr. 2 TPG-2021) sowie die vor­ge­zo­ge­ne Aus­kunfts­pflicht der Ent­nah­me­kran­ken­häu­ser gegen­über der Trans­plan­ta­ti­ons­me­di­zin erlaubt (§ 7 Abs. 3 S. 4 TPG-2021), ist noch zu Leb­zei­ten der Pati­en­ten zu ent­schei­den, ob sie als poten­ti­el­le Organ­spen­der bis zur Hirn­tod­dia­gnos­tik einer Spen­der­kon­di­tio­nie­rung unter­zo­gen und lebens­ver­län­gernd wei­ter­be­han­delt wer­den. Oder gibt der mut­maß­li­che Pati­en­ten­wil­le vor, kei­ne Organ­spen­de zuzu­las­sen, kommt die­sen Pati­en­ten eine pal­lia­tiv­me­di­zi­ni­sche Ster­be­be­glei­tung zugu­te, an der auch die Fami­lie mit­wir­ken kann.

Grund­sätz­lich zählt zur ärzt­li­chen Auf­klä­rungs­pflicht, auf alter­na­ti­ve Behand­lungs­mög­lich­kei­ten hin­zu­wei­sen (§ 630e Abs. 1 S. 3 BGB). Die Alter­na­ti­ve zu einer Organ­spen­de stellt die pal­lia­tiv­me­di­zi­ni­sche Ster­be­be­glei­tung dar. Auf die­sen sprin­gen­den Punkt mach­te auch die Deut­sche Inter­dis­zi­pli­nä­re Ver­ei­ni­gung für Inten­siv­me­di­zin- und Not­fall­me­di­zin (DIVI) anläss­lich der Reform des Trans­plan­ta­ti­ons­ge­set­zes von 2019 auf­merk­sam: „Die Ein­lei­tung einer pal­lia­tiv­me­di­zi­ni­schen Behand­lung wür­de die Rea­li­sie­rung einer Organ­spen­de ver­hin­dern.“ (S. 3)

Das pal­lia­ti­ve Behand­lungs­kon­zept (lat. ‚pal­lia­re’: mit einem Man­tel umhül­len) ver­zich­tet bereits in der Pha­se, wenn sich ein Hirn­ver­sa­gen abzeich­net, auf sinn­los gewor­de­ne, lebens­er­hal­ten­de medi­zi­ni­sche Maß­nah­men. Sie rich­tet den Fokus auf eine lei­dens­min­dern­de The­ra­pie und hat eine ärzt­li­che, spi­ri­tu­el­le sowie psy­cho­so­zia­le Betreu­ung des ster­ben­den Men­schen, aber auch sei­ner Ange­hö­ri­gen im Blick. Inso­fern unter­schei­det sich der letz­te Weg von Organ­spen­dern dras­tisch von dem Ster­ben eines pal­lia­tiv­me­di­zi­nisch und fami­li­är beglei­te­ten Menschen.

Wider­spruchs­lö­sung – ohne Zustim­mung zur „spen­de­zen­trier­ten“ Inten­siv­the­ra­pie und anäs­the­sio­lo­gisch betreu­ten Organentnahme 

Eine Organ­spen­de von Inten­siv­pa­ti­en­ten mit einer schwe­ren Hirn­schä­di­gung kann grund­sätz­lich nur unter fol­gen­den Bedin­gun­gen stattfinden:

  • wenn die maxi­mal­the­ra­peu­ti­sche Lebens­ver­län­ge­rung bis zum fest­stell­ba­ren ‚Hirn­tod‘ wei­ter­ge­führt wird, so dass alle Kri­te­ri­en für das Hirn­ver­sa­gen erfüllt sind (Todes­zeit­punkt: die letz­te Unter­schrift des zwei­ten Hirn­tod­dia­gnos­ti­kers auf dem Hirn­tod­pro­to­koll). Für die­se Zeit­span­ne, die unter dem ethisch pro­ble­ma­ti­schen „The­ra­pie­ziel Hirn­tod“ steht, hat die Bun­des­zen­tra­le für gesund­heit­li­che Auf­klä­rung (BZgA) einen Text­bau­stein extra für Pati­en­ten­ver­fü­gun­gen (S. 14) ent­wi­ckelt, um ein rechts­wirk­sa­mes Ein­ver­ständ­nis für die­se bereits „vor dem Tod“ begin­nen­de The­ra­pie ein­zu­ho­len. Eine in der­sel­ben Pati­en­ten­ver­fü­gung zuvor fest­ge­leg­te Ableh­nung von einer sinn­los gewor­de­nen inten­siv­me­di­zi­ni­schen Lebens­er­hal­tung wird durch die­sen Text­bau­stein zuguns­ten des Pati­en­ten­wil­lens (Pati­en­ten­au­to­no­mie) ‚Organ­spen­de‘ wie­der aufgehoben;
  • wenn die vor­aus­ge­gan­ge­ne sedie­ren­de und schmerz­lin­dern­de Behand­lung abge­setzt wird, um die zwei­fach vor­ge­schrie­be­ne, den Koma­pa­ti­en­ten her­aus­for­dern­de Hirn­tod­fest­stel­lung durch­füh­ren zu kön­nen (z.B. Schmerz­pro­vo­ka­ti­on des Tri­ge­mi­nus­ner­ves etwa durch einen Stich in die Nasen­wur­zel, Eis­was­ser­spü­lung der Ohren, Knei­fen etc.);
  • wenn nach der Hirn­tod­dia­gnos­tik zwecks Auf­recht­erhal­tung des ‚leben­di­gen Kör­pers‘ einer als tot gel­ten­den Per­son die ‚spen­de­zen­trier­te‘ The­ra­pie wei­ter­ge­führt wird. Die­se Behand­lung kann Maß­nah­men mit einer hoch­gra­di­gen Ein­griffs­in­ten­si­tät (S. 323) umfas­sen (z.B. eine Herz-Lun­gen-Wie­der­be­le­bung, Ope­ra­tio­nen, Ver­ab­rei­chung gefäß­ak­ti­ver Medi­ka­men­te; Aus­tausch von min­des­tens einem Blut­vo­lu­men; Ope­ra­tio­nen; Organ­er­satz­the­ra­pien z.B. für Nie­ren, Leber);
  • wenn Anäs­the­sis­ten an der gro­ßen, mehr­stün­di­gen Mul­ti­or­gan­ent­nah­me von bis zu sie­ben Orga­nen mit­wir­ken (Herz, Lun­gen, Darm, Leber, Bauch­spei­chel­drü­se, zwei Nie­ren, außer­dem Antei­le der Milz oder Lymph­kno­ten zur Gewe­be­ty­pi­sie­rung). Sie ver­ab­rei­chen ent­we­der Medi­ka­men­te zur Unter­drü­ckung von Bewe­gun­gen (Mus­kel­re­la­xan­zi­en) und Schmerz­mit­tel (Opio­ide) oder füh­ren eine Nar­ko­se durch (S. 388 f.).

Wider­spruchs­lö­sung – die Miss­ach­tung von Grund­sät­zen der ärzt­li­chen Sterbebegleitung 

Der Ver­zicht auf ein Maxi­mum von medi­zi­nisch-tech­ni­schen Maß­nah­men der künst­li­chen Lebens­ver­län­ge­rung ist mitt­ler­wei­le ein­hel­lig nicht nur gestat­tet, son­dern vor­ge­schrie­ben. Auch für den Umgang mit ster­ben­den Inten­siv­pa­ti­en­ten mit einer schwe­ren Hirn­schä­di­gung gel­ten die Leit­li­ni­en der Anäs­the­sio­lo­gie, der Not­fall- und Inten­siv­me­di­zin, alle mecha­ni­schen, elek­tri­schen und medi­ka­men­tö­sen lebens­er­hal­ten­den The­ra­pien zu been­den. In den Emp­feh­lun­gen der DIVI (S. 50) heißt es: „Maß­nah­men, die aus­schließ­lich zu einer Ver­län­ge­rung des Ster­be­pro­zes­ses füh­ren, sind unzu­läs­sig.“ Zudem ist ein an Fremd­zwe­cken ori­en­tier­ter Umgang mit ster­ben­den Pati­en­ten ver­bo­ten: „Die Inter­es­sen des Ster­ben­den dür­fen kei­nem ande­ren Zweck, wel­cher Art auch immer, unter­ge­ord­net wer­den.“ (S. 51)

Eine inten­siv­the­ra­peu­ti­sche Wei­ter­be­hand­lung, die auf­grund der infaus­ten Pro­gno­se aus­sichts­los ist und daher jeden wei­te­ren Ret­tungs­ver­such des Lebens eines Pati­en­ten sinn­los macht, bewegt sich, so auch der Inter­nist und Chef­arzt der Medi­zi­ni­schen Kli­nik im Ket­te­ler Kran­ken­haus Offen­bach Ste­phan Sahm, „an der Gren­ze zum Tat­be­stand der Kör­per­ver­let­zung“. “(FAZ vom 30.10.2018) Die Wider­spruchs­lö­sung wür­de die Zustim­mungs­pflich­tig­keit und das Selbst­be­stim­mungs­recht von Pati­en­ten für sol­che fremd­nüt­zi­gen medi­zi­ni­schen Ein­grif­fe aufheben.

Wider­spruchs­lö­sung: Gewe­be­ent­nah­me nach dem Tod – Die Außer­kraft­set­zung des Rechts auf Toten­ru­he und des Rechts der Ange­hö­ri­gen auf Totenfürsorge

Da die Trans­plan­ta­ti­ons­me­di­zin auf einer ver­eng­ten, bis heu­te inter­na­tio­nal umstrit­te­nen Todes­de­fi­ni­ti­on beruht, bleibt die Ope­ra­ti­on der Organ­ent­nah­men von den Straf­tat­be­stän­den der vor­sätz­li­chen und fahr­läs­si­gen Tötung sowie der Kör­per­ver­let­zung unbe­rührt. Ab dem Zeit­punkt der abge­schlos­se­nen Hirn­tod­dia­gnos­tik gilt für den im Rechts­sta­tus einer Lei­che sich befin­den­den ‚hirn­to­ten‘ Pati­en­ten zunächst nur, dass der straf­recht­li­che Schutz der Toten­ru­he wirk­sam wird, eben­so das Recht der toten­für­sor­ge­be­rech­tig­ten Ange­hö­ri­gen auf einen pie­tät­vol­len Umgang. Aus dem in Bestat­tungs­ge­setz­ge­bun­gen ver­an­ker­ten Per­sön­lich­keits­recht, das die Wah­rung der Men­schen­wür­de über den Tod hin­aus gewähr­leis­tet, lei­tet sich die Straf­bar­keit der Stö­rung der Toten­ru­he ab (§ 168 StGB).

Nur wenn zu Leb­zei­ten einer Organ- und Gewe­be­spen­de zuge­stimmt wur­de, ist der Per­sön­lich­keits­schutz nach dem Tode durch das Selbst­be­stim­mungs­recht ‚der Ver­stor­be­nen‘ rela­ti­viert und die Behand­lung des ‚Leich­nams‘ als Sache gestattet.

Für Gewe­be­ent­nah­men heißt dies: Im Gegen­satz zu den am leben­den Kör­per durch­ge­führ­ten Organ­ex­plan­ta­tio­nen erfolgt die Ent­nah­me von Gewe­be erst, nach­dem Organ­spen­der auf dem Ope­ra­ti­ons­tisch das Erschei­nungs­bild einer Lei­che ange­nom­men haben (z.B. Atem­still­stand, Toten­fle­cke, Lei­chen­star­re). Gewe­be­ent­nah­men sind größ­ten­teils bis zu 72 Stun­den nach dem Herz­tod durch­führ­bar. Liegt die Erlaub­nis für eine Gewe­be­spen­de vor, dür­fen selbst bei hoch­be­tag­ten Spen­dern Kno­chen (Becken­kamm, Röh­ren­kno­chen, gan­ze Gelen­ke etc.), Haut, Bän­der, Mus­keln, Rip­pen­knor­pel, Blut­ge­fä­ße (Arte­ri­en, Venen), Weich­teil­ge­we­be (Seh­nen, Bin­de­ge­we­be), Augen­horn­häute oder Herz­klap­pen ent­nom­men und als Gewe­be indus­tri­ell wei­ter­ver­ar­bei­tet werden.

Die Wider­spruchs­lö­sung wür­de das Selbst­be­stim­mungs- und das Toten­recht, aber auch das Recht auf Toten­für­sor­ge der Ange­hö­ri­gen hin­fäl­lig machen (Schutz vor dem Straf­tat­be­stand der Stö­rung der Toten­ru­he, im Volks­mund: ‚Lei­chen­schän­dung‘).

Wider­spruchs­lö­sung – die Ent­rech­tung der Eltern von Minderjährigen 

Nur Voll­jäh­ri­ge sind dazu berech­tigt, eine rechts­wirk­sa­me Pati­en­ten­ver­fü­gung zu ver­fas­sen (§ 1827 Abs. 1 BGB) oder sich für eine Kör­per­spen­de für Ana­to­mi­sche Insti­tu­te zu ent­schei­den. Hin­ge­gen sieht der Gesetz­ent­wurf (Bun­des­tag Drs. 20/12609, S. 9) zur Ein­füh­rung der Wider­spruchs­lö­sung vor, auch Min­der­jäh­ri­ge ab dem 14. voll­ende­ten Lebens­jahr auto­ma­tisch zu Organ- und Gewe­be­spen­dern zu machen, es sei denn, sie haben zu Leb­zei­ten ihre Ableh­nung dokumentiert.

Laut der momen­tan gel­ten­den Ent­schei­dungs­re­ge­lung sind Jugend­li­che ab dem 16. Lebens­jahr dazu befugt, ihre Bereit­schaft zu einer Organ- und Gewe­be­spen­de zu erklä­ren. Die im Gesetz­ent­wurf vor­ge­se­he­ne Her­ab­set­zung des Alters von Min­der­jäh­ri­gen auf 14 Jah­re macht eines deut­lich: Die im BGB ver­an­ker­ten Pati­en­ten­rech­te ste­hen schon jetzt nicht in Ein­klang mit der Trans­plan­ta­ti­ons­ge­setz­ge­bung, denn sie behan­delt die juris­ti­sche Rege­lung der Organ- und Gewe­be­spen­de wie einen vom BGB unab­hän­gi­gen Rechts­be­reich. Die Wider­spruchs­lö­sung wür­de die­se Kluft ver­schär­fen und damit auch das elter­li­che Sor­ge­recht (§§ 1627, 1629 Abs. 1 BGB) für Min­der­jäh­ri­ge ab dem 14. Lebens­jahr hin­sicht­lich der Gestal­tung des Ster­be­pro­zes­ses wei­ter ein­engen. Dazu zählt die Ent­schei­dung über eine fami­li­är und ärzt­lich beglei­te­te Pal­lia­tiv­be­hand­lung ver­sus eine spen­de­zen­trier­te The­ra­pie unter Aus­schluss der Ange­hö­ri­gen. Auch wäre Eltern das Sor­ge­recht hin­sicht­lich der Eröff­nung des Kör­pers ihrer Kin­der (ab 14 Jah­ren) und sei­ner Zer­glie­de­rung in ein­zel­ne Orga­ne sowie Gewe­be genommen.

Gewe­be­spen­de‘ – das Geschäft mit mensch­li­chem Gewebe

Die Gewe­be­ge­win­nung ist zwar ein urei­ge­ner Bereich der unter einem Han­dels­ver­bot ste­hen­den Organ­ver­pflan­zungs­me­di­zin. Doch in den letz­ten Jahr­zehn­ten hat sich dar­aus ein eigen­stän­di­ger Zweig ent­wi­ckelt, den die Deut­sche Gesell­schaft für Gewe­be­trans­plan­ta­ti­on mbH (DGFG) orga­ni­siert. Obwohl in der Wer­bung für die Gewe­be­spen­de her­vor­ge­ho­ben wird, sie sei frei von kom­mer­zi­el­len Inter­es­sen, unter­liegt mensch­li­ches Gewe­be dem Arz­nei­mit­tel­ge­setz (AMG) (§ 4 Abs. 30 AMG). Dadurch ist das für Orga­ne gel­ten­de Han­dels­ver­bot auf­ge­ho­ben, so dass die mit einem indus­tri­el­len Ver­fah­ren ver­ar­bei­te­te ‚Gewe­be­spen­de‘ auch kom­mer­zi­ell nutz­bar ist (§§ 21,21a AMG). Die gewinn­träch­ti­ge Wei­ter­ver­ar­bei­tung von mensch­li­chem Gewe­be expan­diert kontinuierlich.

So liegt der Anteil jener Men­schen, die auf einer Inten­siv­sta­ti­on noch vor dem Herz­tod ein Organ­ver­sa­gen des Gehirns (‚Hirn­tod’) erlei­den, unter den Ver­stor­be­nen nur bei etwa 0,3 Pro­zent. Dage­gen ist das Poten­zi­al von Gewe­be­spen­dern ungleich viel grö­ßer. Immer­hin kom­men für eine Gewe­be­ent­nah­me zir­ka 80 Pro­zent der in Kli­ni­ken ver­stor­be­nen Pati­en­ten in Betracht. Zudem kön­nen Gewe­be­spen­der­mel­dun­gen auch von Bestat­tungs­in­sti­tu­ten, Pfle­ge­ein­rich­tun­gen, Hos­pi­zen oder Not­ärz­ten erfol­gen. So wur­den 2023 in Deutsch­land 965 Inten­siv­pa­ti­en­ten mit einer schwe­ren Hirn­schä­di­gung zu Organ­spen­dern, von denen 432 auch als Gewe­be­spen­der dien­ten (44,8 Pro­zent). Hin­ge­gen gab es im sel­ben Jahr 3.305 Gewe­be­spen­der (S. 9), unter ihnen waren 12,3 Pro­zent gleich­zei­tig Organspender.

Die Wider­spruchs­lö­sung wür­de ohne vor­he­ri­ge Zustim­mung der Ver­stor­be­nen die Gewe­be­ent­nah­me (z.B. Kno­chen, Menis­kus, Blut­ge­fä­ße) erlau­ben. Die kom­mer­zia­li­sier­ba­re Gewe­be­ge­win­nung könn­te unter die­ser gesetz­li­chen Bedin­gung erheb­lich poten­ziert werden.

Wider­spruchs­lö­sung – Igno­ranz des ärzt­li­chen Gelöbnisses

Nach den Erfah­run­gen mit den medi­zi­ni­schen Ver­bre­chen durch hoch­ran­gi­ge Wis­sen­schaft­ler im Natio­nal­so­zia­lis­mus wur­de 1948 das Gen­fer Gelöb­nis als eine moder­ne Fas­sung des Hip­po­kra­ti­schen Eides auf inter­na­tio­na­ler Ebe­ne ein­ge­führt. Die­se Dekla­ra­ti­on des Welt­ärz­te­bun­des ver­pflich­tet ärzt­li­ches Han­deln dar­auf, aus­schließ­lich für die Gesund­heit und das Wohl­erge­hen des ein­zel­nen Pati­en­ten Sor­ge zu tra­gen. Medi­zi­ni­sche Maß­nah­men, die nicht am Wohl der anver­trau­ten Pati­en­ten ori­en­tiert und von Fremd­in­ter­es­sen gelei­tet sind, wer­den seit­her ethisch ver­wor­fen, es sei denn, Pati­en­ten doku­men­tie­ren ihr Ein­ver­ständ­nis (z.B. Teil­nah­me an Stu­di­en, Organspende).

Solan­ge die Trans­plan­ta­ti­ons­me­di­zin auf die Nut­zung des Kör­pers ster­ben­der Men­schen ange­wie­sen ist, steht das Gen­fer Gelöb­nis in gewis­ser Wei­se im Wider­spruch zu den Metho­den der Organ­ge­win­nung. So sah der Düs­sel­dor­fer Pro­fes­sor der Chir­ur­gie und Nobel­preis­trä­ger Wer­ner Forß­mann (1904 – 1979) anläss­lich der 1968 in Kap­stadt erfolg­ten Herz­trans­plan­ta­tio­nen die Grund­sät­ze der medi­zi­ni­schen Ethik bedroht und schrieb im Ber­li­ner Tagesspiegel:

Man stel­le sich vor, daß womög­lich in irgend­ei­ner Kli­nik Ärz­te sehn­süch­tig auf Unfall­ver­letz­te war­ten, nicht um ihnen zu hel­fen und sie zu hei­len, son­dern um ihren Kör­per und damit ihre Indi­vi­dua­li­tät zu Mate­ri­al zu ernied­ri­gen. […] Hier wird in letz­ter Kon­se­quenz der Arzt zum Hen­ker her­ab­ge­wür­digt, ein Luzi­fer, ein gefal­le­ner Engel.“ (Nr. 6784, 04. Jan. 1968)

Unter den gesetz­li­chen Bedin­gun­gen der Wider­spruchs­lö­sung gin­ge Forß­manns Schre­ckens­vi­si­on in Erfül­lung. Schließ­lich wären dann sämt­li­che medi­zi­ni­schen Hand­lun­gen gegen­über ster­ben­den Inten­siv­pa­ti­en­ten mit einer schwe­ren Hirn­schä­di­gung auf trans­plan­ta­ti­ons­me­di­zi­ni­sche Fremd­in­ter­es­sen aus­zu­rich­ten. Der staat­li­che Auf­trag, ohne Zustim­mung der betref­fen­den Pati­en­ten die spen­de­zen­trier­te The­ra­pie und die gro­ße Ope­ra­ti­on der Organ­ent­nah­men bei leben­di­gem Leib durch­zu­füh­ren, unter­gräbt das Gen­fer Gelöb­nis: die Ver­pflich­tung auf die ärzt­li­che Schutz­funk­ti­on zum Woh­le des behan­del­ten Patienten.

Das ärzt­li­che Gelöb­nis und das von der Inten­siv­me­di­zin ver­ur­sach­te Spendermeldedefizit 

Vor dem Hin­ter­grund die­ser medi­zin­ethi­schen Ver­pflich­tung wird plau­si­bel, war­um es bei dem Inten­siv­per­so­nal bis auf den heu­ti­gen Tag Wider­stän­de gibt, Pati­en­ten über­haupt als poten­zi­el­le Organ­spen­der wahr­zu­neh­men und für die Ein­lei­tung einer fremd­nüt­zi­gen The­ra­pie durch eine Spen­der­mel­dung bei der Deut­schen Gesell­schaft Organ­trans­plan­ta­ti­on (DSO) initia­tiv zu wer­den. Nicht etwa nur die immer ins Feld geführ­te ‚gerin­ge Organ­spen­de­be­reit­schaft‘ der Bevöl­ke­rung, son­dern auch die nied­ri­ge Betei­li­gung von Inten­siv­ärz­ten an Spen­der­mel­dun­gen wird in der Fach­li­te­ra­tur seit Jahr­zehn­ten als Ursa­che ‚des Organ­man­gels‘ moniert.

2003 mel­de­ten gan­ze 60 Pro­zent der deut­schen Kli­ni­ken mit einer inten­siv­me­di­zi­ni­schen Ver­sor­gung (S. B 212) kei­ne poten­zi­el­len Spen­der. Auch 2016 koope­rier­ten 56 Pro­zent der Inten­siv­sta­tio­nen von sog. Ent­nah­me­kran­ken­häu­ser nicht mit der DSO (S. 27). Um die­se Situa­ti­on zu ändern, wur­de 2019 gegen die gerin­ge Betei­li­gung der Inten­siv­me­di­zin an der Spen­der­re­kru­tie­rung das Gesetz zur Ver­bes­se­rung der Zusam­men­ar­beit und der Struk­tu­ren bei der Organ­spen­de ver­ab­schie­det und ein stren­ge­res Kon­troll­sys­tem zur sog. ‚Spen­der­de­tek­ti­on‘ eta­bliert. Doch die Kla­ge über das Mel­de­de­fi­zit ist auch noch 2021 im Deut­schen Ärz­te­blatt zu lesen: „Die Mehr­zahl der Ent­nah­me­kran­ken­häu­ser erkennt und mel­det kei­nen ein­zi­gen Pati­en­ten mit mög­li­chem IHA [irrever­si­blen Hirn­funk­tions­aus­fall].“ (S. 684)

Die Wider­spruchs­lö­sung wür­de die ärzt­li­che Ver­ant­wor­tung der Inten­siv­me­di­zin für ihre Pati­en­ten am Lebens­en­de und die Auto­no­mie gegen­über der Trans­plan­ta­ti­ons­me­di­zin noch wei­ter einschränken.

Der welt­weit beklag­te ‚Tod auf der War­te­lis­te‘ – Organ­man­gel und Stra­te­gien zur Ver­grö­ße­rung des sog. Spenderpools

Der von der Ver­pflan­zungs­me­di­zin inter­na­tio­nal beklag­te ‚Organ­man­gel‘ scheint ein nicht auf­lös­ba­res, struk­tu­rel­les Pro­blem des Trans­plan­ta­ti­ons­sys­tems ins­ge­samt zu sein. Zum einen erzeugt es imma­nent einen immer grö­ße­ren Bedarf an Orga­nen – etwa durch die Indi­ka­ti­ons­er­wei­te­rung für die Ver­pflan­zung von vor­ge­schä­dig­ten, sog. ‚mar­gi­na­len Orga­nen‘ (z.B. Fett­le­bern, Rau­cher­lun­gen, Orga­ne mit Kon­ser­vie­rungs­schä­den), außer­dem durch Absto­ßun­gen der trans­plan­tier­ten Orga­ne von Emp­fän­gern auch trotz der tag­täg­li­chen Medi­ka­men­ten­ein­nah­me zur Unter­drü­ckung des Immun­sys­tems. Teil­wei­se müs­sen Organ­emp­fän­ger ein zwei­tes oder gar drit­tes Mal trans­plan­tiert werden.

Zum ande­ren ist die Gefahr, auf der Inten­siv­sta­ti­on einen ‚Hirn­tod‘ zu erlei­den, sehr gering. Vor die­sem Hin­ter­grund bleibt das poli­tisch gesteck­te Ziel einer ‚lee­ren War­te­lis­te‘, wie der ehe­ma­li­ge Chef­arzt der Medi­zi­ni­schen Kli­nik in Glad­beck Linus Geis­ler erklär­te, „immer eine Illu­si­on“. Aber ange­sichts der gro­ßen Dis­kre­panz zwi­schen dem stets wach­sen­den Spen­der­be­darf und den ver­füg­ba­ren ‚Organ­res­sour­cen‘ wer­den seit Jahr­zehn­ten immer wie­der neue Kon­zep­te zur Ver­grö­ße­rung des ‚Spen­der­pools‘ ent­wi­ckelt. Neben der Wider­spruchs­lö­sung zäh­len dazu:

  • die Ein­füh­rung einer neu­en Spen­der­ka­te­go­rie, bei der das Hirn­tod­kri­te­ri­um auf­ge­ge­ben wor­den ist: Die sog. Non Heart Bea­ting Donors (NHBD: Organ­spen­der ohne schla­gen­de Her­zen; aktu­el­ler Begriff: Dona­ti­on after cir­cu­la­to­ry death: DCD). Bei einem gro­ßen Teil der DCD-Mul­ti­or­gan­spen­der (Maas­tricht Kate­go­rie III) wer­den im Rah­men eines Behand­lungs­ab­bruchs ein ‚kon­trol­lier­ter Herz­still­stand‘ her­ge­stellt und teil­wei­se, um eine Auto­re­ani­ma­ti­on zu ver­mei­den, vor der Organ­ent­nah­me die Durch­blu­tung des Gehirns unter­bun­den. In den Nie­der­lan­den über­traf 2023 der Anteil der DCD mit 62,33 Pro­zent sogar die Zahl von ‚Organ­spen­dern nach Hirn­tod‘. So auch in Bel­gi­en: hier erfolg­te eine DCD bei 54,20 Pro­zent aller Organ­spen­der (Euro­trans­plant Annu­al Report 2023, Tabel­le 2.4.2.).
    Die DCD-Metho­de wur­de in Deutsch­land von der Zen­tra­len Ethik­kom­mis­si­on als Tötung ethisch ver­wor­fen. Eben­so miss­bil­lig­te 2015 der Deut­sche Ethik­rat mehr­heit­lich die Erwei­te­rung der Organ­ge­win­nung um Non Heart Bea­ting Donors. Hin­ge­gen plä­dier­ten im Zuge des inter­na­tio­na­len Dis­kur­ses über die­se Spen­der­ka­te­go­rie die ame­ri­ka­ni­schen Bio­ethi­ker Robert D. Truog und Frank­lin G. Mil­ler für eine grund­sätz­li­che Abschaf­fung der ‚Tote-Spen­der-Regel‘. Daher spre­chen sie auch hin­sicht­lich der ver­eng­ten Hirn­tod­ver­ein­ba­rung unver­blümt von einem „jus­ti­fied kil­ling“ (S. 42) – dem „gerecht­fer­tig­ten Töten“, um den welt­weit herr­schen­den ‚Organ­man­gel‘ zu mindern;
  • die in eini­gen euro­päi­schen Län­dern und Mit­glied­staa­ten von Euro­trans­plant bereits lega­li­sier­te Kom­bi­na­ti­on von akti­ver Ster­be­hil­fe mit der Metho­de der DCD-Organ­ge­win­nung – so in Bel­gi­en, den Nie­der­lan­den, eben­so in Spa­ni­en und Kanada;
  • die For­de­rung nach einer Lega­li­sie­rung der „Organ­spen­de-Eutha­na­sie“ („Organ Dona­ti­on Eutha­na­sia”).

Die bedin­gungs­lo­se Stei­ge­rung der Trans­plan­ta­ti­ons­zah­len: das Old-for-Old Pro­gramm – ‚Mar­gi­na­le Spen­der­or­ga­ne‘ für ‚Mar­gi­na­le Organempfänger‘

Wie uner­bitt­lich das Trans­plan­ta­ti­ons­sys­tem auf eine maxi­ma­le Stei­ge­rung von Spen­der­zah­len erpicht ist, wur­de auch in der Coro­na-Pan­de­mie offen­bar. So scheu­te die inter­na­tio­na­le Trans­plan­ta­ti­ons­me­di­zin nicht davor zurück, auf Inten­siv­sta­tio­nen sogar nach poten­zi­el­len ‚Organ­spen­dern‘ unter Coro­na­kran­ken Aus­schau zu hal­ten. Auch mel­det das Deut­sche Ärz­te­blatt, eine SARS-CoV‑2 Infek­ti­on von ‚hirn­to­ten‘ Pati­en­ten stel­le kein Hin­der­nis für die Trans­plan­ta­ti­on ihrer Orga­ne dar.

Die­se Ver­pflan­zungs­pra­xis ist ein­ge­bun­den in das seit Ende der 1990er Jah­re von Euro­trans­plant ent­wi­ckel­te Kon­zept der Organ­be­schaf­fung: das „Son­der­pro­gramm für Senio­ren-Pati­en­ten“ – geführt unter der Flos­kel „Old-for-Old Pro­gram“. Für die im Rah­men des Senio­ren­pro­gramms gewon­ne­nen Orga­ne oder für vor­ge­schä­dig­te sog. ‚mar­gi­na­le Orga­ne‘ (z.B. Fett­le­bern, Rau­cher­lun­gen, Orga­ne mit Kon­ser­vie­rungs­schä­den) gel­ten die sog. erwei­ter­ten Spen­der­kri­te­ri­en (‚exten­ded cri­te­ria donor‘). Mit­un­ter wer­den sie als „ein­ge­schränkt ver­mit­tel­ba­re Orga­ne“ (S. 24) über eine sog. modi­fi­zier­te War­te­lis­te oder ein „beschleu­nig­tes Ver­mitt­lungs­ver­fah­ren“ (S. 25) ver­teilt. Seit­dem die Alters­gren­ze für Organ­spen­der auf­ge­ge­ben wur­de, steigt das Alter von Organ­spen­dern im Euro­trans­plant-Ver­bund kon­ti­nu­ier­lich an. 2023 lag das Medi­an­al­ter bei 57 Jah­ren (Decea­sed donors used, medi­an age, by year, by donor coun­try). Auch in Deutsch­land sind etwa ein Drit­tel aller Organ­spen­der älter als 65 Jah­re. 2023 betrug das Höchst­al­ter von Lun­gen­spen­dern 87 und das von Leber­spen­dern 89 Jah­re (S. 65).

Vor die­sem Hin­ter­grund wird plau­si­bel, war­um im Gesetz­ent­wurf zur Ein­füh­rung der Wider­spruchs­lö­sung (BT Drs. 20/12609) der demo­gra­fi­sche Wan­del ins Feld geführt wird. Die poli­tisch beab­sich­tig­te Erhö­hung der Spen­der­zah­len wird nicht zuletzt auch mit einer abstru­sen Methu­sa­lem-Visi­on begrün­det – aller­dings ohne zu pro­ble­ma­ti­sie­ren, was es für alte Men­schen bedeu­tet, die extrem inva­si­ve und mit schwe­ren Neben­wir­kun­gen (z.B. Krebs) ver­bun­de­ne Trans­plan­ta­ti­on zu bewältigen:

Es ist zu erwar­ten, dass mit dem stei­gen­den Lebens­al­ter der Bevöl­ke­rung auch immer mehr Men­schen auf die War­te­lis­ten für ein post­mor­tal gespen­de­tes Organ auf­ge­nom­men wer­den, weil sie wegen einer lebens­be­droh­li­chen Erkran­kung ein Organ benö­ti­gen.“ (S. 16 f.)

Für die Autoren des Gesetz­ent­wur­fes scheint eine beson­de­re Ziel­grup­pe die älte­re Gene­ra­ti­on zu sein: Spen­der von ‚mar­gi­na­len Orga­nen‘, eben­so wie ihre Emp­fän­ger. Der Ver­dacht liegt nahe, dass es ange­sichts der gerin­ge­ren Lebens­er­war­tung nach einer Trans­plan­ta­ti­on im höhe­ren Alter nicht zuletzt auch um eine Stei­ge­rung der Zahl von Trans­plan­ta­ti­ons­ope­ra­tio­nen geht. Der mora­li­sche Legi­ti­ma­ti­ons­ver­such für die gefor­der­te Wider­spruchs­lö­sung – der „Tod auf der War­te­lis­te“ – blen­det im öffent­li­chen Bewusst­sein den nicht gerin­gen Anteil älte­rer poten­zi­el­ler (‚Marginal‘-)Organempfänger aus, so dass in den Wer­be­kam­pa­gnen für Organ­spen­de nichts über die ver­min­der­te Lebens­qua­li­tät und die sehr viel höhe­ren Ster­be­ra­ten von Pati­en­ten nach einer Mar­gi­nal­ver­pflan­zung zu erfah­ren ist.

Wider­spruchs­lö­sung – das Ende der kost­spie­li­gen Organ­spen­de-Wer­be­kam­pa­gnen: Die Unwis­sen­heit über den Unter­schied zwi­schen einer spen­de­zen­trier­ten Inten­siv­the­ra­pie und einer pati­en­ten­zen­trier­ten Ster­be­be­glei­tung wird struk­tu­rell verankert

Die im Gesetz­ent­wurf genann­te, ver­meint­lich hohe Organ­spen­de­be­reit­schaft in der deut­schen Bevöl­ke­rung (84 Pro­zent) dient als Schlüs­sel­ar­gu­ment für die Ein­füh­rung der Wider­spruchs­lö­sung. Doch wie das Ergeb­nis der Stu­die von Eli­as Wag­ner, Georg Marck­mann und Ralf J. Jox zeigt, beruht die von der BZgA ermit­tel­te posi­ti­ve gesell­schaft­li­che Ein­stel­lung zur Organ­spen­de auf gro­ßen Wis­sens­lü­cken: Die Hälf­te der Befrag­ten war nicht ein­mal mit dem Kon­zept des Hirn­to­des ver­traut und nur 22 Pro­zent wuss­ten, dass eine Organ­spen­de nur unter der Vor­aus­set­zung einer Inten­siv­the­ra­pie rea­li­sier­bar ist. Auch lehnt die gro­ße Mehr­heit der Stu­di­en­teil­neh­mer die Reani­ma­ti­on eines im Ster­ben begrif­fe­nen Men­schen ab. Die­se Ein­stel­lung wider­spricht zutiefst der ver­meint­lich gro­ßen Organ­spen­de­be­reit­schaft, denn schließ­lich kön­nen im Rah­men des spen­de­zen­trier­ten Behand­lungs­kon­zepts Wie­der­be­le­bungs­maß­nah­men ergrif­fen werden.

Zu befürch­ten ist: Die Ein­füh­rung der Wider­spruchs­lö­sung mit dem poli­tisch gesteck­ten Ziel „Erhö­hung von Spen­der­zah­len“ dürf­te das in der Bevöl­ke­rung all­ge­mein herr­schen­de Infor­ma­ti­ons­de­fi­zit noch wei­ter vergrößern.

Die Wider­spruchs­lö­sung: Der staat­li­che Impe­ra­tiv ‚Organ- und Gewe­be­spen­de‘ – der Begriff „Spen­de“ ist zu streichen

Die Wider­spruchs­lö­sung wür­de die Begriff­lich­keit „Organ- und Gewe­be­spen­de“, also das Leit­mo­tiv der Gabe, hin­fäl­lig machen. Wie einst in auto­ri­tä­ren Regi­men der Ost­block­staa­ten beruht die­se Rege­lung auf einer staat­lich dekre­tier­ten Ver­ge­sell­schaf­tung des Kör­pers ster­ben­der Pati­en­ten zum Zweck der the­ra­peu­ti­schen Ver­wer­tung. So waren schon in der DDR alle Bür­ge­rin­nen und Bür­ger poten­zi­el­len Kan­di­da­ten für eine Explan­ta­ti­on, es sei denn, wie es in der Trans­plan­ta­ti­ons­ge­setz­ge­bung der DDR von 1975 § 4 hieß, sie hat­ten „zu Leb­zei­ten kei­ne ander­wei­ti­gen Fest­le­gun­gen getroffen“.

Auch die vom Bun­des­rat gefor­der­te Wider­spruchs­lö­sung ver­langt im Namen eines Soli­da­ri­täts­an­spruchs, sich als ster­ben­der Pati­ent der medi­zi­ni­schen Instru­men­ta­li­sie­rung opfern zu müssen.