Dr. med. Hans-Joachim Ritz
Facharzt für Anästhesie und Intensivmedizin
Hannover, Dezember 2024
Eine Widerspruchslösung ohne adäquate Information der Bevölkerung ist Irreführung
Sehr geehrte/r Frau/Herr Abgeordnete/r,
eine größere Gruppe von Bundestagsabgeordneten hat sich einer Initiative angeschlossen, die zur Regelung der Organspende eine Widerspruchslösung einführen will. Laut Gesetzesentwurf wird ein fehlender Widerspruch als Einwilligung in eine Organentnahme gewertet. Eine Organentnahme und die mit ihr verbundene spendezentrierte Intensivtherapie sind aber medizinische Eingriffe, die eine im BGB vorgeschriebene informierte Aufklärung erfordern. Daher ist eine Widerspruchslösung nur unter der Voraussetzung eines differenzierten Informationsangebots für potentielle Spender vertretbar, andernfalls muss sie als unseriöse Irreführung gewertet werden.
Die offiziellen Informationen zur Organspende sind derzeit völlig unzureichend und gleichen eher einer reinen Werbung. Insbesondere in Bezug auf den Umgang mit den für eine Organspende infrage kommenden Intensivpatienten werden alle möglicherweise abschreckenden Aspekte sorgfältig verschwiegen. Dem Organspender wird unter anderem vorenthalten:
- Der Hirntod wird von vielen Experten nicht als der Tod des Menschen angesehen. Jeder registrierte Spender muss das Risiko auf sich nehmen, dass er die Freipräparierung seiner Organe unter Umständen miterlebt und erst durch die Organentnahme stirbt.
- Potentielle Spender werden schon lange vor Feststellung des Hirntodes aufgespürt und dann speziell behandelt. Ziel der organprotektiven Therapie ist nicht mehr das Überleben des Todkranken, sondern eine gute Durchblutung der Spenderorgane bei Erreichen des Hirntodes. Eine oft gewünschte palliativmedizinische Behandlung ist mit dieser intensivmedizinischen Maximaltherapie unvereinbar.
- Die Zuteilung eines Spenderorgans bedeutet keinesfalls Heilung und kann in vielen Fällen den Leidensweg verlängern.
Eine Einführung der Widerspruchslösung ohne Verbesserung des Informationsangebots zur Organspende könnte dazu führen, dass viele Menschen die Mühe einer Entscheidung scheuen, sei es aus Trägheit oder aus auf Unwissen beruhender Sicherheit. Diese Menschen werden im Ernstfall Organspender, ohne jedes Wissen, worauf sie sich damit eingelassen haben.
Der Gesetzentwurf zur Einführung der Widerspruchslösung begründet die beabsichtigte Neuregelung in erster Linie mit den Interessen der Organempfänger. Auf die konkrete medizinrechtliche Behandlungssituation potenzieller Organspender geht er überhaupt nicht ein. Die angestrebten Regelungen stehen hinsichtlich der ärztlichen Aufklärungspflicht, der Patientenautonomie und des Schutzes der Totenruhe nicht in Einklang mit geltenden Gesetzen (BGB). Außerdem missachten sie medizinische Standards der Palliativmedizin, der Sterbebegleitung und der medizinethisch vorgeschriebenen Ausrichtung der Therapie am Wohl des Patienten.
Die Widerspruchslösung würde die rechtliche Grauzone bei der Regelung der Organspende weiter vergrößern.
Freundliche Grüße
Dr. med. Hans-Joachim Ritz