Der Verein Kritische Aufklärung über Organtransplantation wendet sich gegen den Versuch, ohne öffentliche Diskussion die Widerspruchslösung vom Deutschen Bundestag abstimmen zu lassen. Sollte das Parlament diese Neuregelung beschließen, würde jeder Bundesbürger automatisch zum potenziellen Organ- und Gewebespender – es sei denn, er hätte vorher widersprochen. Angesichts der medizinethischen und rechtlichen Tragweite der geplanten Gesetzesreform ist das politische Vorhaben, im Hauruck-Verfahren eine Kehrtwende der Transplantationsgesetzgebung durchzusetzen, inakzeptabel.
Wir fordern die Medien auf, die Bevölkerung über den Inhalt und die rechtlichen Konsequenzen der Widerspruchsregelung zu informieren.
Auch appellieren wir an die Bundestagsabgeordneten, die hochkomplexe Rechtssituation von potenziellen Organspendern unter Bedingungen der Widerspruchslösung juristisch prüfen zu lassen. Denn die Rechtslage der als Spender in Frage kommenden Intensivpatienten bewegt sich bereits heute in einer Grauzone zwischen dem Betreuungsrecht (BGB) und der Transplantationsgesetzgebung. Schon jetzt beginnt die fremdnützige Behandlung von potenziellen Spendern – die sog. Spenderkonditionierung – auf der Intensivstation „bereits mit der Diagnose einer schweren Hirnschädigung“, also vor Eintritt des irreversiblen Hirnversagens (sog. Hirntod).
Ohne Einwilligung der Patienten: Die fremdnützige, lebensverlängernde spendezentrierte Intensivtherapie beginnt zu Lebzeiten und fällt in das Betreuungsrecht (BGB)
In dem Gesetzentwurf (GE) (Drs. 20/13804) wird auf den beabsichtigten Eingriff in die Grundrechte von hirngeschädigten Intensivpatienten mit keinem Wort eingegangen. Diese Patientengruppe dürfte künftig schon zu Lebzeiten ohne Einwilligung der speziell für Organspender entwickelten Behandlung – der fremdnützigen, lebensverlängernden, sog. spendezentrierten Intensivtherapie – unterzogen werden. Eine solche Neuregelung würde gegen das Patientenverfügungsgesetz (§ 1827 BGB) und das Grundgesetz verstoßen. Denn die betreffenden Patienten befinden sich in dieser Phase als Sterbende im Rechtsstatus von lebenden Menschen. Unabhängig von ihren besonderen Eigenschaften genießen sie das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 Grundgesetz).
Der überwiegende Teil aller Verstorbenen dürfte ohne individuelle Zustimmung von kommerzialisierbaren Gewebeentnahmen betroffen sein
Hinsichtlich der Gewebeentnahme wären im Falle der Widerspruchslösung auch Menschen betroffen, die einen Herztod erleiden, da die Gewebeexplantation nicht an ein irreversibles Hirnversagen gebunden ist. Ohne individuelle Einwilligung und Rücksicht auf die Angehörigen dürften nach dem Tod z.B. Knochen, Blutgefäße, Weichteilgewebe oder Augenhornhäute entnommen werden. Im Gegensatz zu Organen ist das mit einem industriellen Verfahren verarbeitete Gewebe kommerzialisierbar (§§ 21, 21a AMG).
„Justified Killing“ – International umstrittene Todesdefinitionen
Im Rahmen der sog. Spender-Präkonditionierung ist gegen mögliche Organschädigungen eine ständige medizinische Unterdrückung des Sterbeprozesses notwendig (z.B. Hormonersatztherapie, Dopamingaben, fortgesetzte Ernährung, Medikamente gegen eine Herzinsuffizienz). Im Falle eines Herz-Kreislauf-Stillstands ist eine Reanimation der Organspender üblich. Denn aus Leichen entnommene Organe sind nicht verpflanzbar, sondern nur blutdurchströmte Organe aus einem lebendigen Körper.
Daher spricht die Transplantationsmedizin von einer „toten Person“ mit einem „noch überlebenden Körper“. Diese Todesdefinition bezieht sich auf das 1968 eigens für die Transplantationsmedizin entwickelte Konzept des „Hirntodes“ („brain death“), das ein Versagen des Gehirns mit dem Tod des Menschen gleichsetzt. Eine solch reduzierte, doppeldeutige Vorstellung über Sterben und Tod ist bis heute international umstritten.
Doch selbst in der Transplantationsmedizin wurde das Hirntodkriterium mit der Einführung der Spenderkategorie nach Herzstillstand aufgegeben – der sog. Non Heart Beating Donors (NHBD: Spender ohne schlagende Herzen; aktueller Begriff: Donation after circulatory death: DCD). Diese Form der Organgewinnung hat in Deutschland die Zentrale Ethikkommission als Tötung verworfen und wurde auch vom Deutschen Ethikrat 2015 mehrheitlich abgelehnt. Denn nach einem Herzstillstand sind Menschen reanimierbar.
Vor diesem Hintergrund plädieren die renommierten Bioethiker Robert D. Truog von der Harvard University und Franklin G. Miller für eine gänzliche Verabschiedung der ‚Tote-Spender-Regel‘ und kommen zu dem Schluss: „the ‚brain dead‘ are not really dead“ – „Hirntote sind nicht wirklich tot“. Truog und Miller kennzeichnen Organentnahmen nach irreversiblem Hirnversagen wie nach Herzstillstand als „justified killing“, – als „gerechtfertigtes Töten“, um den weltweit herrschenden ‚Organmangel‘ beheben zu können.
Allgemeine Wissensdefizite – Die Alternative zu einer Organspende ist die ärztliche Sterbebegleitung in Kooperation mit den Angehörigen
Im Gesetzentwurf wird die zu Lebzeiten beginnende intensivmedizinische Maximaltherapie von potenziellen Organspendern nicht problematisiert. Auch bleiben grundlegende Informationen der breiten Öffentlichkeit verschlossen. Zu keinem Zeitpunkt wurde in der bisherigen Diskussion thematisiert, dass
1. eine Organspende nur unter Verzicht auf eine ärztliche und familiäre Sterbebegleitung möglich ist, obwohl die informierte ärztliche Aufklärung dazu verpflichtet, alternative Behandlungsweisen aufzuzeigen (§ 630e Abs. 1 S. 3 BGB). Die Alternative zu einer Organspende ist die „Therapiebegrenzung mit Symptomlinderung und Sterbebegleitung im Sinne eines palliativen Behandlungskonzeptes“, wie 2021 in den Fortbildungsempfehlungen für die Intensivtherapie bei potenziellen Spendern erklärt;
2. ein gravierender Unterschied besteht zwischen dem sog. Hirntod unter Bedingungen der weitergeführten Intensivtherapie und dem Herztod (Atem- und Herzstillstand, Totenstarre, Totenflecke, Verwesung). Entsprechend verabreichen Anästhesisten Medikamente zur Unterdrückung von Bewegungen sowie Schmerzmittel, oder sie führen eine Narkose durch, bis Organspender auf dem OP-Tisch den Herztod erleiden.
Die Widerspruchslösung untergräbt die ärztliche Verantwortung der Intensivmedizin für ihre am Lebensende behandelten Patienten
Verfechter der Widerspruchslösung missachten das Genfer Gelöbnis, das nach den Medizinverbrechen im Nationalsozialismus ärztliches Handeln darauf verpflichtet hat, bei jeder medizinischen Maßnahme das Wohl des behandelten Patienten zum obersten Anliegen zu machen. Diese ethische Maxime erklärt auch die seit Jahrzehnten beobachtete Zurückhaltung der Intensivmedizin, die eigenen Patienten als potenzielle Spender wahrzunehmen und die fremdnützige Spenderkonditionierung als ihre Aufgabe zu betrachten. Um eine Verhaltensänderung des Intensivpersonals zu bewirken, wurde 2019 das Gesetz zur Verbesserung der Zusammenarbeit und der Strukturen bei der Organspende verabschiedet. Damit hat man ein strengeres Kontrollsystem zur sog. Spenderdetektion etabliert. Doch die dürftige intensivmedizinische Bereitschaft zu Spendermeldungen blieb weitgehend unverändert. Z.B. erklärte 2022 der Präsident der Bundesärztekammer Klaus Reinhardt: „Die fehlende Beteiligung von weit über 70 Prozent der Krankenhäuser erscheint bedenklich“.
Die Widerspruchslösung würde die Autonomie der Intensivmedizin gegenüber der Transplantationsmedizin noch weiter einschränken.
Die Konstruktion eines Schuldproblems zur Legitimation der Entrechtung von sterbenskranken Intensivpatienten und ihren Angehörigen
Es gleicht einer unredlich politischen Strategie, wenn das Leiden einer Gruppe todkranker Patienten (potenzielle Organempfänger) gegen die Rechte von Intensivpatienten mit einer schweren Hirnschädigung ausgespielt wird. Laut Gesetzentwurf geht der Tod von schwerstkranken Menschen auf eine zu geringe Zahl verfügbarer Intensivpatienten ursächlich zurück. Sogar der weltweit beklagte Organmangel wird als Frage eines speziell deutschen ‚Schuldproblems‘ aufgeworfen.
Aus mehreren Gründen handelt es sich um eine Fehlinterpretation der Faktenlage:
- Höhere Spenderquoten anderer Länder erklären sich vor allem aus der dortigen Nutzung von Spendern nach Herzstillstand (z.B. Spanien). So ist in den Verbundländern von Eurotransplant (ET) Belgien und den Niederlanden der Anteil von Spendern nach Herzstillstand mittlerweile größer als der von Organspendern nach ‚Hirntod‘ (ET: Tabelle: 2.4.2.): 2023 waren in den Niederlanden von insgesamt 292 Spendern 182 Patienten nach Herzstillstand (54,20%), in Belgien von 369 sogar 200 (62,33%). Hingegen verzeichnet Eurotransplant im selben Jahr für Deutschland 928 Spender ausschließlich nach ‚Hirntod‘ und könnte somit seine Organressourcen durch die DCD-Methode verdoppeln (etwa 2000 Spender jährlich). Solche Zahlen legen den Verdacht nahe, dass die geplante Einführung der Widerspruchsregelung auf eine subtile Durchsetzung der Entnahmepraxis nach Herzstillstand hinauszulaufen droht, wie z.B. in Österreich oder Frankreich geschehen. So befürwortete bereits die SPD-Bundestagsabgeordnete Martina Stamm-Fibich im Zusammenhang der Lebendspende die Einführung der DCD in Deutschland, allerdings nicht so lautstark wie die FDP, die damit auf breite Kritik stieß.
- Da nach Herzstillstand gewonnene Organe aufgrund des längeren Sterbeprozesses der Patienten eine mindere Qualität aufweisen (sog. Marginalorgane), müssen sie ohne weite Transportwege unverzüglich transplantiert werden. Abgesehen von ethischen Aspekten verbleiben sie im Herkunftsland und werden von Eurotransplant nicht in anderen ET-Verbundländern verteilt.
- Der beklagenswerte Tod von Menschen, die z.B. aufgrund einer alkoholischen Leberkrankheit – der am häufigsten gestellten Indikation für das Setzen auf die Lebertransplantations-Warteliste – oder an einem Leberkrebsleiden sterben, ist ihrer schweren Grunderkrankung geschuldet, nicht aber einer diffus behaupteten fehlenden Zahl von Spendern.
Solche sachlich nicht korrekten kausalen Herleitungen erzeugen auch die Illusion, jede mit schweren Nebenwirkungen verbundene Ultima Ratio Operation einer Transplantation (z.B. Organabstoßungen, erhöhtes Krebsrisiko) würde automatisch, langfristig „Leben retten“. So werden keine Überlebensraten von Transplantationspatienten öffentlich genannt, auch nicht das Alter, die Krankenvorgeschichte, der Alkohol-, Nikotin-, Medikamenten-, Drogen- und Nahrungsmittelkonsum von potenziellen Spendern in den Blick genommen. Indessen steigt der Anteil von sog. marginalen Organen (z.B. Fettlebern, Raucher- oder Wasserlungen) stetig an, ebenso die Zahl von hochbetagten Spendern. 2023 lag das Medianalter in einzelnen Ländern des ET-Verbundes wie z.B. Belgien bei 59 oder Luxemburg sogar bei 65 Jahren und das von Eurotransplant bei 57 Jahren. Dies entspricht der Situation in Deutschland, wo ein Drittel aller Spender älter als 65 ist. 2023 betrug hier z.B. das Höchstalter von Leberspendern 89 Jahre.
Widerspruchslösung: Der medizinethische und rechtliche Dammbruch
Der Gesetzgeber würde durch die Widerspruchsregelung die im BGB verankerte Patientenautonomie aushöhlen (§ 1827 BGB; § 630e Abs. 1 S. 1 u. S. 2 u. S. 3 BGB). Ebenso wären ohne individuelle Zustimmung für eine Organ- und Gewebespende das über den Tod hinausreichende Persönlichkeitsrecht und der Schutz der Totenruhe (§ 168 StGB) eingeschränkt.
Die Widerspruchslösung käme einer Entrechtung aller Intensivpatienten mit einer schweren Hirnschädigung und ihrer Angehörigen gleich. Hingegen betont der GE die Absicht, die Familien vor einer unzumutbaren Entscheidungssituation schützen zu wollen und eine „Entlastung der nächsten Angehörigen“ zu bewirken. Faktisch aber wären die Familien von dem gesamten Verfahren ausgeschlossen, was auf die Trauerbewältigung verheerende Auswirkungen haben kann.
Die medizinethisch und rechtlich heikle Begründung für die Entrechtung von sterbenskranken Intensivpatienten und ihren Angehörigen ist nicht hinnehmbar. Auch die damit einhergehende eingeschränkte Autonomie der Intensivmedizin widerspricht medizinrechtlichen sowie rechtsstaatlichen Prinzipien.
Unsere Initiativstellungnahme zur öffentlichen Anhörung „Änderung des Transplantationsgesetzes“ im Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages am 29. Januar 2025 finden Sie mit den entsprechenden Literaturangaben unter:
Öffentliche Anhörung im Gesundheitsausschuss zur Widerspruchsregelung bei Organspende
Mittwoch, 29. Januar 2025, 16 bis 18 Uhr
Ort: Berlin, Paul-Löbe-Haus, Sitzungssaal E 300
https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2025/kw05-pa-gesundheit-transplantationsgesetz-1038610