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KAO-Presseerklärung: Widerspruchslösung – Die rechtliche Grauzone im geplanten Transplantationsgesetz muss vom Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages geprüft werden

Am Abend des 5. Dezember 2024 fand im Deutschen Bundestag mit einer spärlichen Abgeordnetenbesetzung die erste Lesung zur Einführung der Widerspruchslösung und Änderung des Transplantationsgesetzes statt. Wir protestieren gegen den Versuch, die Widerspruchsregelung in ihrer ganzen medizinethischen Tragweite im Schnelldurchlauf, ohne öffentliche Diskussion kurz vor den Neuwahlen durch das Parlament zu bringen.

Der Verein Kritische Aufklärung Organtransplantation fordert: Der in der jetzigen Transplantationsgesetzgebung bereits vorhandene rechtliche Graubereich muss geprüft werden, denn die Einführung der Widerspruchslösung würde ihn noch weiter verbreitern.

Die spendezentrierte Therapie potenzieller Organspender vor dem irreversiblen Hirnversagen bewegt sich in einer rechtlichen Grauzone

Der Gesetzentwurf zur Einführung der Widerspruchslösung lässt sämtliche hospizlichen und palliativmedizinischen Grundsätze der ärztlichen Sterbebegleitung außer Acht. Stattdessen soll staatlich vorgeschrieben werden, auf Intensivstationen mögliche Organspender – also alle sterbenden Intensivpatienten mit einer schweren Hirnschädigung (z.B. nach einem Schlaganfall, einer Hirnblutung) – dem Behandlungskonzept der sog. organprotektiven bzw. spendezentrierten Therapie zu unterziehen, sofern sie keinen Widerspruch gegen eine Organspende dokumentiert haben. Der springende Punkt dabei ist: Wie vom Deutschen Ethikrat und in der fachwissenschaftlichen Literatur seit Jahren problematisiert, beginnt die fremdnützige Therapie potenzieller Organspender noch zu deren Lebzeiten auf der Intensivstation und keineswegs, wie es immer heißt, erst „nach dem Tod“.

Auch der Jurist Prof. Dr. Gunnar Duttge und Dr. med. Gerald Neitzke – Mitglied im Vorstand der Akademie für Ethik in der Medizin e.V. und in der Sektion Ethik der DIVI – weisen darauf hin:

„Die erforderlichen organprotektiven Maßnahmen zur Realisierung der Hirntoddiagnostik und letztlich der postmortalen Organspende fallen in Deutschland in einen undefinierten rechtlichen Graubereich zwischen Betreuungs- und Transplantationsrecht. Wann von einer rein patienten- zu einer spendezentrierten Behandlung übergegangen werden darf, ist ebenso wenig klar wie die Frage, welche Person für den Patienten stellvertretend die notwendige Entscheidung zu treffen hat. […] Es ist offensichtlich, dass der Gesetzgeber die Notwendigkeit organprotektiver Maßnahmen vor Feststellung des Hirntodes ganz und gar übersehen und stattdessen vielmehr angenommen hat, das Transplantationsrecht komme erst nach Feststellung des Hirntodes zur Anwendung.“ (S. 144, 145)

Aufgrund der im noch lebenden Status von potenziellen Organspendern zu treffenden End-of-Life-Decision musste 2021 das Transplantationsgesetz zur Stärkung der Entscheidungsbereitschaft (2020) auf Drängen der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) wegen seiner Undurchführbarkeit verändert werden. Daher hat der Gesetzgeber den Einblick des medizinischen Personals in das Onlineregister für Organ- und Gewebespende vor der Hirntoddiagnostik gestattet (§ 2a Abs. 4 S. 2 Nr. 2 TPG-2021). Ebenso musste die Auskunftspflicht gegenüber den an der Transplantation beteiligten Ärzten auf den Zeitraum vor der Feststellung des Hirntodes gelegt werden (§ 7 Abs. 3 S. 4 TPG-2021). Allein diese beiden Änderungen widerlegen die auf Organspendeausweisen suggerierte Vorstellung, der Organspendeprozess beginne „nach meinem Tod“ und sind ein Indiz für die rechtliche Grauzone.

Für den konkreten Ablauf einer Organ- und Gewebespende heißt dies: Stellt sich heraus, dass der betreffende Patient eine Organspende ablehnt, kommt ihm eine palliativmedizinische Sterbebegleitung ohne Abwarten des irreversiblen Hirnversagens und Hirntoddiagnostik zugute. Das palliative Behandlungskonzept verzichtet auf sinnlos gewordene, lebenserhaltende medizinische Maßnahmen. Es richtet den Fokus auf eine leidensmindernde Therapie und hat eine ärztliche, spirituelle sowie psychosoziale Betreuung des sterbenden Menschen und seiner Angehörigen im Blick. Insofern unterscheidet sich der letzte Weg von Organspendern drastisch von dem Sterben eines palliativmedizinisch und familiär begleiteten Menschen.

Außerdem dient die im Gesetzentwurf genannte hohe Organspendebereitschaft in der deutschen Bevölkerung (rund 84 Prozent) als Schlüsselargument für die Einführung der Widerspruchslösung. Die Autoren berufen sich auf eine Telefonumfrage der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). Aber eine am Telefon geäußerte positive Einstellung darf nicht zur Grundlage eines Gesetzes gemacht werden, das im BGB verankerte Patientenrechte und die darin zugesicherte Patientenautonomie außer Kraft setzt. Die Widerspruchsregelung würde die Ergebnisse einer allgemeinen Telefonumfrage mit der individuellen Bereitschaft zu einer Organ- und Gewebeentnahme in einer höchst dramatischen Behandlungssituation auf der Intensivstation gleichsetzen, wenn Patienten eine schwere Hirnschädigung mit einer infausten Prognose erlitten haben.

Die BZgA blendet in der Interpretation ihrer Umfrageergebnisse allgemein bestehende Wissenslücken aus

Wie die Studie von Elias Wagner, Georg Marckmann und Ralf J. Jox zeigt, beruht die positive Einstellung zur Organspende in der Bevölkerung auf beträchtlichen Informationsdefiziten: Die Hälfte der Befragten ist nicht einmal mit dem bis heute international und auch im Deutschen Ethikrat (2015) umstrittenen Konzept des ‚Hirntodes‘ vertraut, das ein irreversibles Hirnversagen mit dem Tod des Menschen gleichsetzt. Lediglich 22 Prozent wissen, dass Organentnahmen nur unter der Bedingung einer lebensverlängernden Intensivtherapie realisierbar sind. Allein dieses Faktum widerspricht einer von vielen älteren Menschen verfassten therapiebegrenzenden Patientenverfügung. Zudem lehnt die große Mehrheit der Studienteilnehmer die Reanimation eines im Sterben begriffenen Menschen ab. Doch diese Einstellung ist unvereinbar mit einer Organspendebereitschaft. Schließlich kann das spendezentrierte Behandlungskonzept nicht nur eine Herz-Lungen-Wiederbelebung, sondern noch andere hochgradig invasive Eingriffe umfassen (z.B. Operationen).

Medizinethische Rechtsnormen und Regelungen des Bürgerlichen Gesetzbuches

Vertreter der Widerspruchsregelung ignorieren die im BGB verankerte Patientenautonomie, medizinethische Grundsätze und die Rechte von Angehörigen eines sterbenden und toten Menschen. Dazu zählen:

  • die gesetzliche Regelung zur Aufklärung und Einwilligung bei medizinischen Eingriffen (§ 630e Abs. 1 S. 1 u. S. 2 BGB) sowie zur ärztlichen Informationspflicht, alternative Behandlungsweisen aufzuzeigen (§ 630e Abs. 1 S. 3 BGB). Die Alternative zu einer spendezentrierten Intensivtherapie ist die palliativmedizinische Sterbebegleitung;
  • das Selbstbestimmungsrecht von Patienten (§ 1827 BGB) hinsichtlich der Zustimmungspflichtigkeit zur spendezentrierten Intensivtherapie und anästhesiologisch betreuten Organentnahme aus dem lebendigen Körper einer als tot definierten Person (Verabreichung von Medikamenten zur Unterdrückung von Bewegungen [Muskelrelaxanzien] und Schmerzmitteln [Opioide] oder einer Narkose); 
  • das über den Tod hinausreichende Persönlichkeitsrecht und der Schutz der Totenruhe (§ 168 StGB) – die Zustimmungspflichtigkeit zur Entnahme von Gewebe (z.B. Gelenke, Meniskus, Sehnen, Blutgefäße) – es unterliegt dem Arzneimittelgesetz (§ 4 Abs. 30 AMG) und ist kommerzialisierbar (§§ 21, 21a AMG);
  • das Totenfürsorgerecht der nächsten Angehörigen und deren Recht auf Wahrung der Pietät (Zerlegung des Körpers in einzelne Organe und Gewebeteile z.B. Knochen [Beckenkamm, Röhrenknochen, ganze Gelenke], Haut, Bänder, Muskeln, Rippenknorpel, Blutgefäße [Arterien, Venen], Weichteilgewebe [Sehnen, Bindegewebe], Augenhornhäute, Herzklappen);
  • das ärztliche Genfer Gelöbnis, jede medizinische Handlung ausschließlich an dem Wohlergehen des behandelten Patienten zu orientieren.

Angesichts der vielschichtigen Dimensionen dieses komplexen medizinischen, ethischen und rechtlichen Regelungsbereichs muss die Einführung der Widerspruchslösung vom Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages geprüft werden. Ansonsten bleibt offen: Dürfen todgeweihte Intensivpatienten mit einer schweren Hirnschädigung, die keinen Widerspruch gegen eine Organspende dokumentiert, aber eine therapiebegrenzende Patientenverfügung niedergelegt haben, auf Grundlage des Transplantationsgesetzes dennoch lebensverlängernd, spendezentriert zugunsten Dritter behandelt werden?

Die jetzige Rechtslücke würde das ohnehin bestehende Konfliktpotenzial hinsichtlich der zwei möglichen Arten zu sterben noch weiter erhöhen:

entweder mit einer palliativmedizinischen Sterbebegleitung im Beisein der Angehörigen

oder im Rahmen einer fremdnützigen spendezentrierten Intensivtherapie bis zur Organentnahme (Herztod auf dem Operationstisch).