Argumente zum Thema „Widerspruchsregelung“ KAO

  • Vgl. Deut­scher Ethik­rat (Anm. 3), S. 80.

  • Bun­des­ärz­te­kam­mer: Richt­li­nie gemäß § 16 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 TPG für die Regeln zur Fest­stel­lung des Todes nach § 3 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 TPG und die Ver­fah­rens­re­geln zur Fest­stel­lung des end­gül­ti­gen, nicht beheb­ba­ren Aus­falls der Gesamt­funk­ti­on des Groß­hirns, des Klein­hirns und des Hirn­stamms nach § 3 Abs. 2 Nr. 2 TPG, Fünf­te Fort­schrei­bung. 2022 (http://​bit​.ly/​4​8​DN1ec), S. 2.

  • Vgl. Bun­des­ärz­te­kam­mer (Anm. 12), S. 2.

  • Vgl. Beck­mann, Rai­ner: Fal­sche „Hirntod“-Feststellung in Deutsch­land. Medi­zin­recht 2023, S. 863 ff.


  • In der Dis­kus­si­on über die mög­li­che Ein­füh­rung einer Wider­spruchs­re­ge­lung wur­den bis­her wesent­li­che Aspek­te nicht berück­sich­tigt. Daher neh­men wir – der Ver­ein Kri­ti­sche Auf­klä­rung über Organ­trans­plan­ta­ti­on e. V. (KAO) – nach­fol­gend zu eini­gen Pro­ble­men der Wider­spruchs­re­ge­lung Stel­lung. Bit­te neh­men Sie unse­re Infor­ma­tio­nen und Argu­men­te auf­merk­sam zur Kennt­nis. Das The­ma Organ­ent­nah­me hat es ver­dient, nicht nur ober­fläch­lich oder aus dem Gefühl her­aus behan­delt zu wer­den. Ent­schei­dend für die poli­ti­sche Bewer­tung und die indi­vi­du­el­le Ent­schei­dung muss eine umfas­sen­de Auf­klä­rung sein.

    1. Die Wider­spruchs­re­ge­lung führt den Begriff der „Organ­spen­de“ ad absurdum.

    Bis­lang gilt in Deutsch­land eine (erwei­ter­te) Zustim­mungs­lö­sung. Das heißt, dass einer Per­son grund­sätz­lich nur dann Orga­ne oder Gewe­be ent­nom­men wer­den dür­fen, wenn sie vor­her zuge­stimmt hat. Daher hat sich auch der Begriff der „Organspen­de“ eta­bliert. Eine Spen­de ist etwas Frei­wil­li­ges.

    Die Idee der Wider­spruchs­re­ge­lung beruht dage­gen dar­auf, dass jeder, der einer Organ­ent­nah­me nicht aus­drück­lich wider­spro­chen hat, auto­ma­tisch als „Organ­spen­der“ betrach­tet wird. Der Begriff der „Spen­de“ ist nicht mehr sinn­voll, weil Per­so­nen Orga­ne ent­nom­men wer­den, die dazu kei­ne Ein­wil­li­gung erteilt haben.

    2. Die Mehr­heit der Bevöl­ke­rung hat sich nicht für eine Organ­ent­nah­me entschieden. 

    Der Gesetz­ent­wurf des Bun­des­ra­tes geht davon aus, dass eine gro­ße Mehr­heit der Bevöl­ke­rung einer Organ- oder Gewe­be­spen­de posi­tiv gegen­über­steht. Des­halb sol­len „die Per­so­nen, die der Organ­spen­de posi­tiv gegen­über­ste­hen, ihre Ent­schei­dung aber bis­her nicht doku­men­tiert haben, als zukünf­ti­ge Organ­spen­de­rin bezie­hungs­wei­se Organ­spen­der erfasst wer­den“ (BT-Drs. 20/12609, S. 2).

    Tat­säch­lich liegt aber in der Pra­xis nur in ca. 20 Pro­zent der Fäl­le ein schrift­lich doku­men­tier­ter Wil­le zur Organ­spen­de vor. Der oft­mals erweck­te Ein­druck, die meis­ten Bür­ge­rin­nen und Bür­ger stimm­ten einer Organ­ent­nah­me zu und hät­ten nur ver­säumt, dies zu doku­men­tie­ren, ist falsch. Die­se Aus­sa­ge beruht auf einer Fehl­in­ter­pre­ta­ti­on der Reprä­sen­ta­tiv­be­fra­gung der Bun­des­zen­tra­le für gesund­heit­li­che Auf­klä­rung aus dem Jahr 2022. Eine „eher posi­ti­ve“ Ein­stel­lung zum The­ma Organ- und Gewe­be­spen­de im All­ge­mei­nen[1] kann nicht als Bereit­schaft zur indi­vi­du­el­len Organ­spen­de gedeu­tet wer­den. Pau­scha­le Anga­ben in Tele­fon­um­fra­gen sind nicht mit einer ech­ten Zustim­mung zu einer Organ­ent­nah­me gleichzusetzen.

    3. Über die Vor­aus­set­zun­gen einer Organ­ent­nah­me wird nicht umfas­send und ergeb­nis­of­fen aufgeklärt.

    Gemäß § 2 Abs. 1 S. 2 des Trans­plan­ta­ti­ons­ge­set­zes (TPG) hat die Auf­klä­rung der Bevöl­ke­rung „die gesam­te Trag­wei­te der Ent­schei­dung zu umfas­sen und muss ergeb­nis­of­fen sein“. Unter ande­rem ist über „die Vor­aus­set­zun­gen der Organ- und Gewe­be­ent­nah­me“ zu infor­mie­ren (§ 1 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 TPG).

    Die Haupt­vor­aus­set­zung für eine Organ­ent­nah­me ist der Tod des Organ­spen­ders (§ 3 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 TPG). Zusätz­lich muss als Min­dest­vor­aus­set­zung der „end­gül­ti­ge, nicht beheb­ba­re Aus­fall der Gesamt­funk­ti­on des Groß­hirns, des Klein­hirns und des Hirn­stamms“ (umgangs­sprach­lich: „Hirn­tod“; medi­zi­nisch: „irrever­si­bler Hirn­funk­tions­aus­fall“) vor­lie­gen (§ 3 Abs. 2 Nr. 2 TPG). Wie die­se bei­den Vor­aus­set­zun­gen zusam­men­hän­gen und wel­che Argu­men­te für bzw. gegen die Annah­me spre­chen, der „Hirn­tod“ sei ein siche­res Anzei­chen für den Tod („Hirntod“-Konzept), müss­te im Zen­trum der Auf­klä­rungs­maß­nah­men der Bun­des­zen­tra­le für gesund­heit­li­che Auf­klä­rung (BZgA) ste­hen. Die Dar­stel­lung der Rechts­la­ge in den Auf­klä­rungs­ma­te­ria­li­en der BZgA ist aber völ­lig ein­sei­tig. Die im Gesetz vor­han­de­ne Dif­fe­renz zwi­schen Tod und „Hirn­tod“ wird igno­riert. Vor allem wer­den kri­ti­sche Argu­men­te gegen das „Hirntod“-Konzept ver­schwie­gen.[2] Die Auf­klä­rung der Bevöl­ke­rung ist daher nicht ergeb­nis­of­fen, son­dern mani­pu­la­tiv. Sie wider­spricht auch der For­de­rung des Deut­schen Ethik­rats, es „soll­ten ver­schie­de­ne Sicht­wei­sen zur Hirn­tod­kon­zep­ti­on dar­ge­stellt wer­den“.[3]

    4. Die Wider­spruchs­re­ge­lung miss­ach­tet das Selbst­be­stim­mungs­recht und das Recht auf Leben.

    Zur Selbst­be­stim­mung gehört es, dass man nur dann eine Ent­schei­dung trifft, wenn man es will. Es gibt ein Recht, sich nicht zu ent­schei­den (nega­ti­ves Selbst­be­stim­mungs­recht). In die­ses Recht wird ein­ge­grif­fen, weil bei Gel­tung einer Wider­spruchs­re­ge­lung jeder Bür­ger eine Ent­schei­dung zur Organ­spen­de tref­fen muss. Der Staat legt für alle Bür­ger fest, dass sie „Organ­spen­der“ sein sol­len. Wer sich die­ser Anord­nung nicht beu­gen will, muss wider­spre­chen. Die Wider­spruchs­re­ge­lung führt damit zu einer Ent­schei­dungs­pflicht. Wer kei­ne Erklä­rung zur Organ­ent­nah­me abgibt, wird auto­ma­tisch als „Organ­quel­le“ behandelt.

    Auch bei Gel­tung einer „Wider­spruchs­re­ge­lung“ kann man einer Organ­ent­nah­me aus­drück­lich zustim­men oder ihr wider­spre­chen. Um eine sol­che Ent­schei­dung tref­fen zu kön­nen, muss man über die Vor­aus­set­zun­gen und Umstän­de einer Organ­ent­nah­me voll­stän­dig infor­miert sein. Die meis­ten Men­schen in Deutsch­land ver­fü­gen aber nicht über die erfor­der­li­chen Infor­ma­tio­nen (sie­he Ziff. 5). Vie­le Bür­ge­rin­nen und Bür­ger sind auch dau­er­haft nicht in der Lage, eine Abwä­gung vor­zu­neh­men und einen mög­li­chen Wider­spruch zu erklä­ren (sie­he Ziff. 6).

    Neben dem Ein­griff in das Selbst­be­stim­mungs­recht liegt auch ein Ein­griff in das Recht auf Leben vor, weil Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten, bei denen ein irrever­si­bler Hirn­funk­tions­aus­fall fest­ge­stellt wor­den ist, nach dem eige­nen Ver­ständ­nis der Bun­des­ärz­te­kam­mer nicht tot sind (sie­he Ziff. 8 bis 11).

    5. Min­des­tens die Hälf­te der Bevöl­ke­rung ist nicht aus­rei­chend über das The­ma „Organ­spen­de“ informiert. 

    Die BZgA-Reprä­sen­ta­tiv­be­fra­gung von 2022 hat erge­ben, dass sich 36 Pro­zent der Befrag­ten „weni­ger gut“ und 9 Pro­zent „schlecht“ infor­miert füh­len.[4] Bei Wis­sens­fra­gen zum The­ma Organ­spen­de sind eben­falls gro­ße Defi­zi­te vor­han­den: nur 36 Pro­zent der Befrag­ten wer­den als „gut infor­miert“, 59 Pro­zent dage­gen als nur „mäßig“ und 5 Pro­zent als „schlecht infor­miert“ ein­ge­stuft.[5] Da somit fast zwei Drit­tel der Bevöl­ke­rung zum The­ma „Organ­spen­de“ nicht gut infor­miert sind, kann von ihnen auch kei­ne Erklä­rung zur Organ­spen­de ver­langt wer­den. Eine Ent­schei­dungs­pflicht setzt vor­aus, dass alle, die eine Erklä­rung abge­ben sol­len, umfas­send und objek­tiv über die Umstän­de der zu tref­fen­den Ent­schei­dung auf­ge­klärt sind.

    Die Unin­for­miert­heit wei­ter Tei­le der Bevöl­ke­rung kann auch nicht ver­wun­dern, weil die Auf­klä­rungs­maß­nah­men der BZgA – selbst wenn sie aus­ge­wo­gen wären –, nur einen klei­nen Bruch­teil der Bür­ge­rin­nen und Bür­ger errei­chen. Die ein­zi­gen Mate­ria­li­en, die sich über­haupt (und sehr ober­fläch­lich) mit der Kern­fra­ge, näm­lich dem Ver­hält­nis zwi­schen Tod und „Hirn­tod“ befas­sen,[6] wur­den im Jahr 2023 ins­ge­samt nur ca. 11.500 Mal abge­ge­ben. Über die zen­tra­le Fra­ge, „wie tot“ Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten mit einem irrever­si­blen Hirn­funk­tions­aus­fall sind, erfah­ren die Bür­ge­rin­nen und Bür­ger prak­tisch nichts.

    6. Vie­le Men­schen kön­nen sich zur Fra­ge einer Organ­ent­nah­me kei­ne abge­wo­ge­ne Mei­nung bilden.

    Die Wider­spruchs­re­ge­lung beruht auf der Annah­me, dass alle Bür­ge­rin­nen und Bür­ger ohne wei­te­res erken­nen kön­nen, ob sie einer Organ­ent­nah­me wider­spre­chen soll­ten. Das trifft aber nicht zu, weil vie­len Men­schen die Kom­pe­tenz fehlt, sich zu gesund­heit­li­chen Fra­gen eine abge­wo­ge­ne Mei­nung zu bil­den. Gemäß dem „Health Liter­acy Sur­vey“ ist die „Gesund­heits­kom­pe­tenz“ von fast 10 Pro­zent der Bevöl­ke­rung als „inad­äquat“ und bei 44,6 Pro­zent als „pro­ble­ma­tisch“ ein­zu­schät­zen.[7] Des­halb kön­nen vie­le Men­schen nicht über die recht­li­chen und medi­zi­ni­schen Umstän­de einer Organ­ent­nah­me hin­rei­chend auf­ge­klärt werden.

    Im Rah­men einer Wider­spruchs­re­ge­lung wer­den Men­schen mit geis­ti­ger Behin­de­rung, mit Demenz oder mit gerin­gem Bil­dungs­ni­veau gene­rell als poten­ti­el­le „Spen­der“ betrach­tet, obwohl sie gar nicht erken­nen kön­nen, ob sie einer Organ­ent­nah­me wider­spre­chen soll­ten. Die im Bun­des­rats­ent­wurf vor­ge­se­he­ne Aus­nah­me für Per­so­nen, die nicht in der Lage waren, Wesen, Bedeu­tung und Trag­wei­te einer Organ­spen­de zu erken­nen und ihren Wil­len danach aus­zu­rich­ten (BT-Drs. 20/12609, S. 11), ist nicht ver­fah­rens­mä­ßig abge­si­chert. Die Anfor­de­run­gen für einen „Grund­rechts­schutz durch Ver­fah­ren“ wer­den nicht ein­mal ansatz­wei­se erfüllt.

    7. Schwei­gen kann bei schwie­ri­gen und per­sön­li­chen Fra­ge­stel­lun­gen nicht als Zustim­mung betrach­tet werden.

    Schwei­gen kann recht­lich unter beson­de­ren Umstän­den fik­tiv als Zustim­mung gewer­tet wer­den, wenn von einer bestimm­ten Grup­pe erwar­tet wer­den kann, dass sie einen Wider­spruch erklärt. Durch Pas­si­vi­tät kön­nen im All­ge­mei­nen auch Rechts­nach­tei­le ent­ste­hen, z. B. wenn man eine Erb­schaft nicht aus­schlägt, obwohl sie über­wie­gend aus Schul­den besteht.

    Dage­gen kann bei Ein­grif­fen in das Per­sön­lich­keits­recht oder die kör­per­li­che Inte­gri­tät Schwei­gen nicht fik­tiv als Zustim­mung gewer­tet wer­den (z. B. bei Ver­stö­ßen gegen die sexu­el­le Selbst­be­stim­mung oder bei Kör­per­ver­let­zun­gen). Vor allem kommt „Schwei­gen als Zustim­mung“ dann nicht in Betracht, wenn es um den hoch­sen­si­blen Bereich des Umgangs mit dem eige­nen Ster­ben geht. Fer­ner setzt die Ent­schei­dung für oder gegen eine Organ­spen­de beson­de­re Sach­kennt­nis­se vor­aus. Je kom­pli­zier­ter ein Pro­blem ist und je unter­schied­li­cher die per­sön­li­che Ein­stel­lung in die­sem Bereich sein kann, des­to absur­der wäre es, in die­sem Bereich Schwei­gen recht­lich als Zustim­mung zu „fin­gie­ren“.

    8. Vor einer Organ­ent­nah­me wird nicht der Tod festgestellt.

    Ent­ge­gen § 3 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 TPG wird in der Pra­xis der Trans­plan­ta­ti­ons­me­di­zin vor einer Organ­ent­nah­me nicht „der Tod“, son­dern nur der „Hirn­tod“ (§ 3 Abs. 2 Nr. 2 TPG) fest­ge­stellt. Auf den Unter­schied zwi­schen bei­den Bestim­mun­gen gehen die „Auf­klä­rungs­ma­te­ria­li­en“ der BZgA über­haupt nicht ein. Es wird viel­mehr so getan, als sei­en „Tod“ und „Hirn­tod“ das glei­che – obwohl bei­des im Gesetz strikt aus­ein­an­der­ge­hal­ten wird.

    Der Unter­schied zwi­schen Tod und „Hirn­tod“ zeigt sich im Trans­plan­ta­tions­ge­setz dadurch, dass die Bun­des­ärz­te­kam­mer zwei Richt­li­ni­en erstel­len soll:

    • eine zu den „Regeln zur Fest­stel­lung des Todes“ und
    • eine wei­te­re zu den „Ver­fah­rens­re­geln zur Fest­stel­lung des end­gül­ti­gen, nicht beheb­ba­ren Aus­falls der Gesamt­funk­ti­on des Groß­hirns, des Klein­hirns und des Hirn­stamms“ (= „Hirn­tod“; vgl. § 16 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 TPG).

    9. Bei Fest­stel­lung des „irrever­si­blen Hirn­funk­ti­ons­aus­falls“ ist der Tod noch nicht eingetreten.

    Eine gesetz­li­che Defi­ni­ti­on des Todes gibt es nicht. Nach Ansicht der Bun­des­ärz­te- kam­mer ist der Tod auch durch eine Des­in­te­gra­ti­on des mensch­li­chen Orga­nis­mus gekenn­zeich­net.[8] Per­so­nen, die wegen einer schwe­ren Hirn­funk­ti­ons­stö­rung auf einer Inten­siv­sta­ti­on behan­delt wer­den und bei denen der „irrever­si­ble Hirn­funk­tions­aus­fall“ fest­ge­stellt wor­den ist, zei­gen aber kei­ne Anzei­chen von Des­in­te­gra­ti­on. Ihr Orga­nis­mus bleibt – mit inten­siv­me­di­zi­ni­scher Unter­stüt­zung – voll­stän­dig erhal­ten und funk­ti­ons­fä­hig (abzgl. Gehirn): alle Orga­ne, Gewe­be und Zel­len wer­den mit Sau­er­stoff ver­sorgt, Nah­rung und Flüs­sig­keit wer­den ver­wer­tet, Abfall­stof­fe wer­den aus­ge­schie­den, Kei­me aus der Umwelt bekämpft (Immun­sys­tem), Wun­den hei­len etc.

    Des­in­te­gra­ti­ons­an­zei­chen, wie sie bei Lei­chen typisch sind (Lei­chen­fle­cke, Lei­chen- star­re, Ver­we­sung) tre­ten bei Pati­en­ten mit aus­ge­fal­le­nen Hirn­funk­tio­nen nicht auf. Schwan­ge­re Pati­en­tin­nen mit aus­ge­fal­le­nen Hirn­funk­tio­nen kön­nen sogar über Wochen und Mona­te ein Kind aus­tra­gen.[9] Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten mit „Hirn­tod“- Syn­drom befin­den sind offen­sicht­lich nicht in einem Sta­di­um der Des­in­te­gra­ti­on. Sie sind des­halb unter Berück­sich­ti­gung des Todes­ver­ständ­nis­ses der Bun­des­ärz­te­kam­mer nicht tot.[10] Auch nach Auf­fas­sung der Mehr­heit des Deut­schen Ethik­ra­tes ver­liert ein „hirn­to­ter“ Orga­nis­mus erst dann sei­ne „orga­nis­mi­sche Ganz­heit“, wenn die inten­siv­me­di­zi­ni­schen Maß­nah­men ein­ge­stellt wer­den.[11]

    10. Ein Pati­ent mit „Hirn­tod-Syn­drom“ ist bio­lo­gisch noch am Leben.

    Als „Hirn­tod“ bzw. „irrever­si­bler Hirn­funk­tions­aus­fall“ gilt der „end­gül­ti­ge, nicht beheb­ba­re Aus­fall der Gesamt­funk­ti­on des Groß­hirns, des Klein­hirns und des Hirn­stamms“ (§ 3 Abs. 2 Nr. 2 TPG), wobei durch inten­siv­me­di­zi­ni­sche Maß­nah­men die Funk­ti­ons­fä­hig­keit des gesam­ten Orga­nis­mus (außer­halb des Gehirns) auf­recht­erhal­ten wird.[12]

    Der „Hirntod“/„irreversible Hirn­funk­tions­aus­fall“ bezieht sich nur auf die Funk­ti­ons­fä­hig­keit eines Organs. Der Mensch besteht aber nicht nur aus einem Organ, sein Leben beschränkt sich nicht auf das Gehirn. Von einem Organfunk­ti­ons­aus­fall kann nicht unmit­tel­bar auf den Tod des Men­schen geschlos­sen wer­den. Das ist beim „Herz­still­stand“ all­ge­mein aner­kannt. Wird lebens­er­hal­tend ein­ge­grif­fen, kann die Funk­ti­on des Her­zens wie­der­her­ge­stellt bzw. maschi­nell ersetzt wer­den. Das glei­che gilt auch für Gehirn­funk­tio­nen, die das kör­per­li­che Leben des Men­schen steu­ern und regu­lie­ren. Der Funk­ti­ons­aus­fall des Atem­zen­trums im Hirn­stamm wird durch die maschi­nel­le Beatmung kom­pen­siert. Damit liegt kein „nicht beheb­ba­rer“ Funk­ti­ons­aus­fall des gesam­ten Gehirns vor. Das „Hirntod“-Konzept ist letzt­lich in sich wider­sprüch­lich, weil es einer­seits einen „nicht beheb­ba­ren“ Funk­ti­ons­aus­fall for­dert und ande­rer­seits der Aus­fall der für das Über­le­ben wich­tigs­ten Funk­ti­on durch die Beatmung kom­pen­siert wird. Der Orga­nis­mus bleibt damit als Gan­zer funk­ti­ons­fä­hig und wird am Leben erhalten.

    11. Die „Hirntod“-Diagnostik ist ober­fläch­lich und unzu­rei­chend begründet.

    Die „Regeln zur Fest­stel­lung des Todes“ in der „Hirntod“-Richtlinie der Bun­des­ärz­te­kam­mer erschöp­fen sich in einem kur­zen Absatz, in dem behaup­tet wird, dass mit dem „irrever­si­blen Hirn­funk­tions­aus­fall“ („Hirn­tod“) auch der Tod des Men­schen fest­ge­stellt wer­den kön­ne.[13] Für die­se Behaup­tung wer­den aber kei­ner­lei Argu­men­te oder Erkennt­nis­se der medi­zi­ni­schen Wis­sen­schaft genannt.

    Auch für wesent­li­che Fest­le­gun­gen zur Dia­gnos­tik des „Hirn­to­des“ fehlt jede Begründung:

    • Der Prü­fungs­um­fang der Dia­gnos­tik beschränkt sich auf die Funk­ti­ons­fä­hig­keit des Groß­hirns und des Hirn­stamms, obwohl nach dem Trans­plan­ta­tions­ge­setz auch das Klein­hirn zu prü­fen wäre.
    • Es ist nicht ersicht­lich, wes­halb sich aus ein­zel­nen vor­ge­schrie­be­nen Funk­ti­ons­tests ein Aus­fall der „Gesamt­funk­ti­on“ des Gehirns (vgl. § 3 Abs. 2 Nr. 2 TPG) ergibt. Der Begriff der „Gesamt­funk­ti­on“ wird an kei­ner Stel­le defi­niert oder erläutert.
    • Die Irrever­si­bi­li­tät der Hirn­schä­di­gung soll durch eine zwei­te Unter­su­chung nach 12 bzw. 72 Stun­den (je nach Art der Hirn­schä­di­gung) bewie­sen sein. Stu­di­en, mit denen die­se Fris­ten begrün­det wer­den könn­ten, gibt es nicht.
    • Kom­men appa­ra­ti­ve Zusatz­un­ter­su­chun­gen zur Anwen­dung, kann gem. der Richt­li­nie der Hirn­funk­tions­aus­fall sofort als „irrever­si­bel“ ange­se­hen wer­den. Dabei bestä­tigt kei­ne die­ser Unter­su­chun­gen direkt die kli­ni­schen Hirn­funk­ti­ons­aus­fäl­le. Für die­se nicht nach­voll­zieh­ba­re Rege­lung wer­den kei­ne Grün­de genannt oder wis­sen­schaft­li­che Bele­ge angeführt.

    Die Richt­li­nie ver­stößt damit gegen das Trans­plan­ta­tions­ge­setz, weil sie kei­ne nach­voll­zieh­ba­ren Begrün­dun­gen ent­hält (vgl. § 16 Abs. 2 S. 2 TPG). Dar­über hin­aus gibt es Pro­ble­me bei der „Hirntod“-Feststellung in der Pra­xis.[14]

    12. Die Rege­lun­gen ande­rer Län­der sind kein Vor­bild für Deutschland. 

    Zahl­rei­che Län­der haben eine Wider­spruchs­re­ge­lung. Das bedeu­tet aber nicht, dass die­se Art der Organ­ge­win­nung akzep­ta­bel ist. Die Bevöl­ke­rung wird in die­sen Län­dern genau­so schlecht bzw. irre­füh­rend „auf­ge­klärt“ wie in Deutsch­land. Die Organ­ge­win­nung erfolgt bei jeder Wider­spruchs­re­ge­lung ohne Beach­tung des Rechts, kei­ne Ent­schei­dung tref­fen zu müs­sen. Eine Gewin­nung von Orga­nen ohne die Zustim­mung der betrof­fe­nen Men­schen ist immer ein Ver­stoß gegen das Prin­zip der Freiwilligkeit.

    In eini­gen Län­dern mit Wider­spruchs­re­ge­lung ist die Zahl der gewon­ne­nen Orga­ne höher als in Deutsch­land. Aber man kann nicht sicher sagen, dass gera­de die Wider­spruchs­re­ge­lung den Unter­schied aus­macht. Die Organ­spen­de ist teil­wei­se anders orga­ni­siert (insb. in Spa­ni­en). In zahl­rei­chen Län­dern wer­den auch Men­schen Orga­ne ent­nom­men, obwohl sie weder einen irrever­si­blen Herz­still­stand noch einen irrever­si­blen Hirn­funk­tions­aus­fall erlit­ten haben (Organ­ge­win­nung von Pati­en­ten ohne Herz­schlag, „Non-heart-bea­ting-dona­ti­on“). Die­ses Vor­ge­hen wäre in Deutsch­land ein­deu­tig rechtswidrig.

    13. Die Wider­spruchs­re­ge­lung ver­stößt gegen das Grundgesetz.

    Im Ergeb­nis wäre eine Wider­spruchs­re­ge­lung in dop­pel­ter Hin­sicht ver­fas­sungs­wid­rig:

    • Es wird nicht berück­sich­tigt, dass der „Hirn­tod“ kein siche­res Todes­zei­chen ist. Pati­en­ten mit einem irrever­si­blen Hirn­funk­tions­aus­fall sind dem Tod sehr nahe und kön­nen nur mit hohem Auf­wand für eine begrenz­te Zeit am Leben erhal­ten wer­den. Sie kön­nen höchst­wahr­schein­lich auch nicht mehr in ein bewuss­tes Leben zurück­keh­ren. Sie sind aber nach dem eige­nen Todes­ver­ständ­nis der Bun­des­ärz­te­kam­mer (Des­in­te­gra­ti­on des Orga­nis­mus) noch nicht tot.
    • Ob einem Men­schen in der letz­ten Pha­se des Ster­be­pro­zes­ses Orga­ne ent­nom­men wer­den dür­fen, kön­nen nur die Betrof­fe­nen selbst ent­schei­den. Wer kei­ne Ent­schei­dung getrof­fen hat, darf nicht ohne sei­nen Wil­len als „Organ­spen­der“ behan­delt wer­den. Wenn im Rah­men der Wider­spruchs­re­ge­lung von allen Bür­ge­rin­nen und Bür­gern eine Ent­schei­dung zur Organ­spen­de ver­langt wird, obwohl sie nicht nach­weis­lich auf­grund einer ergeb­nis­of­fe­nen und umfas­sen­den Auf­klä­rung über die für die Ent­schei­dung erfor­der­li­chen Infor­ma­tio­nen ver­fü­gen, liegt ein Ver­stoß gegen das (nega­ti­ve) Selbst­be­stim­mungs­recht vor. Ein der­ar­ti­ger Ein­griff in das Selbst­be­stim­mungs­recht ist immer unver­hält­nis­mä­ßig und daher ver­fas­sungs­wid­rig.

    Die Ver­fech­ter der Wider­spruchs­re­ge­lung spe­ku­lie­ren dar­auf, dass vie­le Men­schen de fac­to kei­nen Wider­spruch erklä­ren wer­den – egal, ob sie hin­rei­chend infor­miert sind oder nicht. Die Wider­spruchs­re­ge­lung zielt dar­auf ab, die Unin­for­miert­heit wei­ter Tei­le der Bevöl­ke­rung aus­zu­nut­zen. Aber gera­de weil „die Selbst­be­stim­mung über den eige­nen Kör­per „ein zen­tra­les Ele­ment mensch­li­cher Wür­de“ ist (so BT-Drs. 20/12609, S. 2), darf in die kör­per­li­che Inte­gri­tät von Pati­en­ten mit Hirn­funk­tions­aus­fall nicht ohne deren Zustim­mung ein­ge­grif­fen werden.

    Quel­len:

    1. Vgl. Zim­me­ring, Rebecca/​Hammes, Dia­na: Bericht zur Reprä­sen­ta­tiv­stu­die 2022 „Wis­sen, Ein­stel­lung und Ver­hal­ten der All­ge­mein­be­völ­ke­rung zur Organ- und Gewe­be­spen­de“. BZgA-For­schungs­be­richt, Köln, März 2023, S. 103.

    2. Sie­he Bun­des­zen­tra­le für gesund­heit­li­che Auf­klä­rung (Hrsg.): Was ist der Hirn­tod?, Köln 2019, S. 124 f.

    3. Deut­scher Ethik­rat: Hirn­tod und Ent­schei­dung zur Organ­spen­de. Stel­lung­nah­me 2015, S. 123

    4. Vgl. Zimmering/​Hammes (Anm. 1), S. 62.

    5. Vgl. Zimmering/​Hammes (Anm. 1), S. 66

    6. Die BZgA-Bro­schü­ren „Der unum­kehr­ba­re Aus­fall der gesam­ten Hirn­funk­tio­nen (Hirn­tod)“ und „Was ist der Hirn­tod?“

    7. Vgl. Schaef­fer, Doris/​Berens, Eva-Maria/­Vogt, Domi­ni­que: Gesund­heits­kom­pe­tenz der Bevöl­ke­rung in Deutsch­land. Deut­sches Ärz­te­blatt 2017, S. 54.

    8. Vgl. Bun­des­ärz­te­kam­mer, Deut­sches Ärz­te­blatt 1993, S. A‑2933; Brandt, Stephan/​Angstwurm, Heinz: Deut­sches Ärz­te­blatt 2018, S. 678.

    9. Vgl. Amts­ge­richt Würz­burg, Bestel­lung eines Betreu­ers für eine Schwan­ge­re, deren Gehirn­funk­tio­nen aus­ge­fal­len sind. Zeit­schrift für das gesam­te Fami­li­en­recht 2019, S. 1821 ff.; Mar­kus Kre­del u. a., An- ästhe­sio­lo­gie Inten­siv­me­di­zin Not­fall­me­di­zin Schmerz­the­ra­pie 2021, S. 526 ff.

    10. Vgl. Beck­mann, Rai­ner: Das unbe­grün­de­te „Hirntod“-Konzept. Juris­ten­zei­tung 2023, S. 952 ff.

    11. Vgl. Deut­scher Ethik­rat (Anm. 3), S. 80.

    12. Bun­des­ärz­te­kam­mer: Richt­li­nie gemäß § 16 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 TPG für die Regeln zur Fest­stel­lung des Todes nach § 3 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 TPG und die Ver­fah­rens­re­geln zur Fest­stel­lung des end­gül­ti­gen, nicht beheb­ba­ren Aus­falls der Gesamt­funk­ti­on des Groß­hirns, des Klein­hirns und des Hirn­stamms nach § 3 Abs. 2 Nr. 2 TPG, Fünf­te Fort­schrei­bung. 2022 (http://​bit​.ly/​4​8​DN1ec), S. 2.

    13. Vgl. Bun­des­ärz­te­kam­mer (Anm. 12), S. 2.

    14. Vgl. Beck­mann, Rai­ner: Fal­sche „Hirntod“-Feststellung in Deutsch­land. Medi­zin­recht 2023, S. 863 ff.