In der Diskussion über die mögliche Einführung einer Widerspruchsregelung wurden bisher wesentliche Aspekte nicht berücksichtigt. Daher nehmen wir – der Verein Kritische Aufklärung über Organtransplantation e. V. (KAO) – nachfolgend zu einigen Problemen der Widerspruchsregelung Stellung. Bitte nehmen Sie unsere Informationen und Argumente aufmerksam zur Kenntnis. Das Thema Organentnahme hat es verdient, nicht nur oberflächlich oder aus dem Gefühl heraus behandelt zu werden. Entscheidend für die politische Bewertung und die individuelle Entscheidung muss eine umfassende Aufklärung sein.
1. Die Widerspruchsregelung führt den Begriff der „Organspende“ ad absurdum.
Bislang gilt in Deutschland eine (erweiterte) Zustimmungslösung. Das heißt, dass einer Person grundsätzlich nur dann Organe oder Gewebe entnommen werden dürfen, wenn sie vorher zugestimmt hat. Daher hat sich auch der Begriff der „Organspende“ etabliert. Eine Spende ist etwas Freiwilliges.
Die Idee der Widerspruchsregelung beruht dagegen darauf, dass jeder, der einer Organentnahme nicht ausdrücklich widersprochen hat, automatisch als „Organspender“ betrachtet wird. Der Begriff der „Spende“ ist nicht mehr sinnvoll, weil Personen Organe entnommen werden, die dazu keine Einwilligung erteilt haben.
2. Die Mehrheit der Bevölkerung hat sich nicht für eine Organentnahme entschieden.
Der Gesetzentwurf des Bundesrates geht davon aus, dass eine große Mehrheit der Bevölkerung einer Organ- oder Gewebespende positiv gegenübersteht. Deshalb sollen „die Personen, die der Organspende positiv gegenüberstehen, ihre Entscheidung aber bisher nicht dokumentiert haben, als zukünftige Organspenderin beziehungsweise Organspender erfasst werden“ (BT-Drs. 20/12609, S. 2).
Tatsächlich liegt aber in der Praxis nur in ca. 20 Prozent der Fälle ein schriftlich dokumentierter Wille zur Organspende vor. Der oftmals erweckte Eindruck, die meisten Bürgerinnen und Bürger stimmten einer Organentnahme zu und hätten nur versäumt, dies zu dokumentieren, ist falsch. Diese Aussage beruht auf einer Fehlinterpretation der Repräsentativbefragung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung aus dem Jahr 2022. Eine „eher positive“ Einstellung zum Thema Organ- und Gewebespende im Allgemeinen[1] kann nicht als Bereitschaft zur individuellen Organspende gedeutet werden. Pauschale Angaben in Telefonumfragen sind nicht mit einer echten Zustimmung zu einer Organentnahme gleichzusetzen.
3. Über die Voraussetzungen einer Organentnahme wird nicht umfassend und ergebnisoffen aufgeklärt.
Gemäß § 2 Abs. 1 S. 2 des Transplantationsgesetzes (TPG) hat die Aufklärung der Bevölkerung „die gesamte Tragweite der Entscheidung zu umfassen und muss ergebnisoffen sein“. Unter anderem ist über „die Voraussetzungen der Organ- und Gewebeentnahme“ zu informieren (§ 1 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 TPG).
Die Hauptvoraussetzung für eine Organentnahme ist der Tod des Organspenders (§ 3 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 TPG). Zusätzlich muss als Mindestvoraussetzung der „endgültige, nicht behebbare Ausfall der Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms“ (umgangssprachlich: „Hirntod“; medizinisch: „irreversibler Hirnfunktionsausfall“) vorliegen (§ 3 Abs. 2 Nr. 2 TPG). Wie diese beiden Voraussetzungen zusammenhängen und welche Argumente für bzw. gegen die Annahme sprechen, der „Hirntod“ sei ein sicheres Anzeichen für den Tod („Hirntod“-Konzept), müsste im Zentrum der Aufklärungsmaßnahmen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) stehen. Die Darstellung der Rechtslage in den Aufklärungsmaterialien der BZgA ist aber völlig einseitig. Die im Gesetz vorhandene Differenz zwischen Tod und „Hirntod“ wird ignoriert. Vor allem werden kritische Argumente gegen das „Hirntod“-Konzept verschwiegen.[2] Die Aufklärung der Bevölkerung ist daher nicht ergebnisoffen, sondern manipulativ. Sie widerspricht auch der Forderung des Deutschen Ethikrats, es „sollten verschiedene Sichtweisen zur Hirntodkonzeption dargestellt werden“.[3]
4. Die Widerspruchsregelung missachtet das Selbstbestimmungsrecht und das Recht auf Leben.
Zur Selbstbestimmung gehört es, dass man nur dann eine Entscheidung trifft, wenn man es will. Es gibt ein Recht, sich nicht zu entscheiden (negatives Selbstbestimmungsrecht). In dieses Recht wird eingegriffen, weil bei Geltung einer Widerspruchsregelung jeder Bürger eine Entscheidung zur Organspende treffen muss. Der Staat legt für alle Bürger fest, dass sie „Organspender“ sein sollen. Wer sich dieser Anordnung nicht beugen will, muss widersprechen. Die Widerspruchsregelung führt damit zu einer Entscheidungspflicht. Wer keine Erklärung zur Organentnahme abgibt, wird automatisch als „Organquelle“ behandelt.
Auch bei Geltung einer „Widerspruchsregelung“ kann man einer Organentnahme ausdrücklich zustimmen oder ihr widersprechen. Um eine solche Entscheidung treffen zu können, muss man über die Voraussetzungen und Umstände einer Organentnahme vollständig informiert sein. Die meisten Menschen in Deutschland verfügen aber nicht über die erforderlichen Informationen (siehe Ziff. 5). Viele Bürgerinnen und Bürger sind auch dauerhaft nicht in der Lage, eine Abwägung vorzunehmen und einen möglichen Widerspruch zu erklären (siehe Ziff. 6).
Neben dem Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht liegt auch ein Eingriff in das Recht auf Leben vor, weil Patientinnen und Patienten, bei denen ein irreversibler Hirnfunktionsausfall festgestellt worden ist, nach dem eigenen Verständnis der Bundesärztekammer nicht tot sind (siehe Ziff. 8 bis 11).
5. Mindestens die Hälfte der Bevölkerung ist nicht ausreichend über das Thema „Organspende“ informiert.
Die BZgA-Repräsentativbefragung von 2022 hat ergeben, dass sich 36 Prozent der Befragten „weniger gut“ und 9 Prozent „schlecht“ informiert fühlen.[4] Bei Wissensfragen zum Thema Organspende sind ebenfalls große Defizite vorhanden: nur 36 Prozent der Befragten werden als „gut informiert“, 59 Prozent dagegen als nur „mäßig“ und 5 Prozent als „schlecht informiert“ eingestuft.[5] Da somit fast zwei Drittel der Bevölkerung zum Thema „Organspende“ nicht gut informiert sind, kann von ihnen auch keine Erklärung zur Organspende verlangt werden. Eine Entscheidungspflicht setzt voraus, dass alle, die eine Erklärung abgeben sollen, umfassend und objektiv über die Umstände der zu treffenden Entscheidung aufgeklärt sind.
Die Uninformiertheit weiter Teile der Bevölkerung kann auch nicht verwundern, weil die Aufklärungsmaßnahmen der BZgA – selbst wenn sie ausgewogen wären –, nur einen kleinen Bruchteil der Bürgerinnen und Bürger erreichen. Die einzigen Materialien, die sich überhaupt (und sehr oberflächlich) mit der Kernfrage, nämlich dem Verhältnis zwischen Tod und „Hirntod“ befassen,[6] wurden im Jahr 2023 insgesamt nur ca. 11.500 Mal abgegeben. Über die zentrale Frage, „wie tot“ Patientinnen und Patienten mit einem irreversiblen Hirnfunktionsausfall sind, erfahren die Bürgerinnen und Bürger praktisch nichts.
6. Viele Menschen können sich zur Frage einer Organentnahme keine abgewogene Meinung bilden.
Die Widerspruchsregelung beruht auf der Annahme, dass alle Bürgerinnen und Bürger ohne weiteres erkennen können, ob sie einer Organentnahme widersprechen sollten. Das trifft aber nicht zu, weil vielen Menschen die Kompetenz fehlt, sich zu gesundheitlichen Fragen eine abgewogene Meinung zu bilden. Gemäß dem „Health Literacy Survey“ ist die „Gesundheitskompetenz“ von fast 10 Prozent der Bevölkerung als „inadäquat“ und bei 44,6 Prozent als „problematisch“ einzuschätzen.[7] Deshalb können viele Menschen nicht über die rechtlichen und medizinischen Umstände einer Organentnahme hinreichend aufgeklärt werden.
Im Rahmen einer Widerspruchsregelung werden Menschen mit geistiger Behinderung, mit Demenz oder mit geringem Bildungsniveau generell als potentielle „Spender“ betrachtet, obwohl sie gar nicht erkennen können, ob sie einer Organentnahme widersprechen sollten. Die im Bundesratsentwurf vorgesehene Ausnahme für Personen, die nicht in der Lage waren, Wesen, Bedeutung und Tragweite einer Organspende zu erkennen und ihren Willen danach auszurichten (BT-Drs. 20/12609, S. 11), ist nicht verfahrensmäßig abgesichert. Die Anforderungen für einen „Grundrechtsschutz durch Verfahren“ werden nicht einmal ansatzweise erfüllt.
7. Schweigen kann bei schwierigen und persönlichen Fragestellungen nicht als Zustimmung betrachtet werden.
Schweigen kann rechtlich unter besonderen Umständen fiktiv als Zustimmung gewertet werden, wenn von einer bestimmten Gruppe erwartet werden kann, dass sie einen Widerspruch erklärt. Durch Passivität können im Allgemeinen auch Rechtsnachteile entstehen, z. B. wenn man eine Erbschaft nicht ausschlägt, obwohl sie überwiegend aus Schulden besteht.
Dagegen kann bei Eingriffen in das Persönlichkeitsrecht oder die körperliche Integrität Schweigen nicht fiktiv als Zustimmung gewertet werden (z. B. bei Verstößen gegen die sexuelle Selbstbestimmung oder bei Körperverletzungen). Vor allem kommt „Schweigen als Zustimmung“ dann nicht in Betracht, wenn es um den hochsensiblen Bereich des Umgangs mit dem eigenen Sterben geht. Ferner setzt die Entscheidung für oder gegen eine Organspende besondere Sachkenntnisse voraus. Je komplizierter ein Problem ist und je unterschiedlicher die persönliche Einstellung in diesem Bereich sein kann, desto absurder wäre es, in diesem Bereich Schweigen rechtlich als Zustimmung zu „fingieren“.
8. Vor einer Organentnahme wird nicht der Tod festgestellt.
Entgegen § 3 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 TPG wird in der Praxis der Transplantationsmedizin vor einer Organentnahme nicht „der Tod“, sondern nur der „Hirntod“ (§ 3 Abs. 2 Nr. 2 TPG) festgestellt. Auf den Unterschied zwischen beiden Bestimmungen gehen die „Aufklärungsmaterialien“ der BZgA überhaupt nicht ein. Es wird vielmehr so getan, als seien „Tod“ und „Hirntod“ das gleiche – obwohl beides im Gesetz strikt auseinandergehalten wird.
Der Unterschied zwischen Tod und „Hirntod“ zeigt sich im Transplantationsgesetz dadurch, dass die Bundesärztekammer zwei Richtlinien erstellen soll:
- eine zu den „Regeln zur Feststellung des Todes“ und
- eine weitere zu den „Verfahrensregeln zur Feststellung des endgültigen, nicht behebbaren Ausfalls der Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms“ (= „Hirntod“; vgl. § 16 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 TPG).
9. Bei Feststellung des „irreversiblen Hirnfunktionsausfalls“ ist der Tod noch nicht eingetreten.
Eine gesetzliche Definition des Todes gibt es nicht. Nach Ansicht der Bundesärzte- kammer ist der Tod auch durch eine Desintegration des menschlichen Organismus gekennzeichnet.[8] Personen, die wegen einer schweren Hirnfunktionsstörung auf einer Intensivstation behandelt werden und bei denen der „irreversible Hirnfunktionsausfall“ festgestellt worden ist, zeigen aber keine Anzeichen von Desintegration. Ihr Organismus bleibt – mit intensivmedizinischer Unterstützung – vollständig erhalten und funktionsfähig (abzgl. Gehirn): alle Organe, Gewebe und Zellen werden mit Sauerstoff versorgt, Nahrung und Flüssigkeit werden verwertet, Abfallstoffe werden ausgeschieden, Keime aus der Umwelt bekämpft (Immunsystem), Wunden heilen etc.
Desintegrationsanzeichen, wie sie bei Leichen typisch sind (Leichenflecke, Leichen- starre, Verwesung) treten bei Patienten mit ausgefallenen Hirnfunktionen nicht auf. Schwangere Patientinnen mit ausgefallenen Hirnfunktionen können sogar über Wochen und Monate ein Kind austragen.[9] Patientinnen und Patienten mit „Hirntod“- Syndrom befinden sind offensichtlich nicht in einem Stadium der Desintegration. Sie sind deshalb unter Berücksichtigung des Todesverständnisses der Bundesärztekammer nicht tot.[10] Auch nach Auffassung der Mehrheit des Deutschen Ethikrates verliert ein „hirntoter“ Organismus erst dann seine „organismische Ganzheit“, wenn die intensivmedizinischen Maßnahmen eingestellt werden.[11]
10. Ein Patient mit „Hirntod-Syndrom“ ist biologisch noch am Leben.
Als „Hirntod“ bzw. „irreversibler Hirnfunktionsausfall“ gilt der „endgültige, nicht behebbare Ausfall der Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms“ (§ 3 Abs. 2 Nr. 2 TPG), wobei durch intensivmedizinische Maßnahmen die Funktionsfähigkeit des gesamten Organismus (außerhalb des Gehirns) aufrechterhalten wird.[12]
Der „Hirntod“/„irreversible Hirnfunktionsausfall“ bezieht sich nur auf die Funktionsfähigkeit eines Organs. Der Mensch besteht aber nicht nur aus einem Organ, sein Leben beschränkt sich nicht auf das Gehirn. Von einem Organfunktionsausfall kann nicht unmittelbar auf den Tod des Menschen geschlossen werden. Das ist beim „Herzstillstand“ allgemein anerkannt. Wird lebenserhaltend eingegriffen, kann die Funktion des Herzens wiederhergestellt bzw. maschinell ersetzt werden. Das gleiche gilt auch für Gehirnfunktionen, die das körperliche Leben des Menschen steuern und regulieren. Der Funktionsausfall des Atemzentrums im Hirnstamm wird durch die maschinelle Beatmung kompensiert. Damit liegt kein „nicht behebbarer“ Funktionsausfall des gesamten Gehirns vor. Das „Hirntod“-Konzept ist letztlich in sich widersprüchlich, weil es einerseits einen „nicht behebbaren“ Funktionsausfall fordert und andererseits der Ausfall der für das Überleben wichtigsten Funktion durch die Beatmung kompensiert wird. Der Organismus bleibt damit als Ganzer funktionsfähig und wird am Leben erhalten.
11. Die „Hirntod“-Diagnostik ist oberflächlich und unzureichend begründet.
Die „Regeln zur Feststellung des Todes“ in der „Hirntod“-Richtlinie der Bundesärztekammer erschöpfen sich in einem kurzen Absatz, in dem behauptet wird, dass mit dem „irreversiblen Hirnfunktionsausfall“ („Hirntod“) auch der Tod des Menschen festgestellt werden könne.[13] Für diese Behauptung werden aber keinerlei Argumente oder Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft genannt.
Auch für wesentliche Festlegungen zur Diagnostik des „Hirntodes“ fehlt jede Begründung:
- Der Prüfungsumfang der Diagnostik beschränkt sich auf die Funktionsfähigkeit des Großhirns und des Hirnstamms, obwohl nach dem Transplantationsgesetz auch das Kleinhirn zu prüfen wäre.
- Es ist nicht ersichtlich, weshalb sich aus einzelnen vorgeschriebenen Funktionstests ein Ausfall der „Gesamtfunktion“ des Gehirns (vgl. § 3 Abs. 2 Nr. 2 TPG) ergibt. Der Begriff der „Gesamtfunktion“ wird an keiner Stelle definiert oder erläutert.
- Die Irreversibilität der Hirnschädigung soll durch eine zweite Untersuchung nach 12 bzw. 72 Stunden (je nach Art der Hirnschädigung) bewiesen sein. Studien, mit denen diese Fristen begründet werden könnten, gibt es nicht.
- Kommen apparative Zusatzuntersuchungen zur Anwendung, kann gem. der Richtlinie der Hirnfunktionsausfall sofort als „irreversibel“ angesehen werden. Dabei bestätigt keine dieser Untersuchungen direkt die klinischen Hirnfunktionsausfälle. Für diese nicht nachvollziehbare Regelung werden keine Gründe genannt oder wissenschaftliche Belege angeführt.
Die Richtlinie verstößt damit gegen das Transplantationsgesetz, weil sie keine nachvollziehbaren Begründungen enthält (vgl. § 16 Abs. 2 S. 2 TPG). Darüber hinaus gibt es Probleme bei der „Hirntod“-Feststellung in der Praxis.[14]
12. Die Regelungen anderer Länder sind kein Vorbild für Deutschland.
Zahlreiche Länder haben eine Widerspruchsregelung. Das bedeutet aber nicht, dass diese Art der Organgewinnung akzeptabel ist. Die Bevölkerung wird in diesen Ländern genauso schlecht bzw. irreführend „aufgeklärt“ wie in Deutschland. Die Organgewinnung erfolgt bei jeder Widerspruchsregelung ohne Beachtung des Rechts, keine Entscheidung treffen zu müssen. Eine Gewinnung von Organen ohne die Zustimmung der betroffenen Menschen ist immer ein Verstoß gegen das Prinzip der Freiwilligkeit.
In einigen Ländern mit Widerspruchsregelung ist die Zahl der gewonnenen Organe höher als in Deutschland. Aber man kann nicht sicher sagen, dass gerade die Widerspruchsregelung den Unterschied ausmacht. Die Organspende ist teilweise anders organisiert (insb. in Spanien). In zahlreichen Ländern werden auch Menschen Organe entnommen, obwohl sie weder einen irreversiblen Herzstillstand noch einen irreversiblen Hirnfunktionsausfall erlitten haben (Organgewinnung von Patienten ohne Herzschlag, „Non-heart-beating-donation“). Dieses Vorgehen wäre in Deutschland eindeutig rechtswidrig.
13. Die Widerspruchsregelung verstößt gegen das Grundgesetz.
Im Ergebnis wäre eine Widerspruchsregelung in doppelter Hinsicht verfassungswidrig:
- Es wird nicht berücksichtigt, dass der „Hirntod“ kein sicheres Todeszeichen ist. Patienten mit einem irreversiblen Hirnfunktionsausfall sind dem Tod sehr nahe und können nur mit hohem Aufwand für eine begrenzte Zeit am Leben erhalten werden. Sie können höchstwahrscheinlich auch nicht mehr in ein bewusstes Leben zurückkehren. Sie sind aber nach dem eigenen Todesverständnis der Bundesärztekammer (Desintegration des Organismus) noch nicht tot.
- Ob einem Menschen in der letzten Phase des Sterbeprozesses Organe entnommen werden dürfen, können nur die Betroffenen selbst entscheiden. Wer keine Entscheidung getroffen hat, darf nicht ohne seinen Willen als „Organspender“ behandelt werden. Wenn im Rahmen der Widerspruchsregelung von allen Bürgerinnen und Bürgern eine Entscheidung zur Organspende verlangt wird, obwohl sie nicht nachweislich aufgrund einer ergebnisoffenen und umfassenden Aufklärung über die für die Entscheidung erforderlichen Informationen verfügen, liegt ein Verstoß gegen das (negative) Selbstbestimmungsrecht vor. Ein derartiger Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht ist immer unverhältnismäßig und daher verfassungswidrig.
Die Verfechter der Widerspruchsregelung spekulieren darauf, dass viele Menschen de facto keinen Widerspruch erklären werden – egal, ob sie hinreichend informiert sind oder nicht. Die Widerspruchsregelung zielt darauf ab, die Uninformiertheit weiter Teile der Bevölkerung auszunutzen. Aber gerade weil „die Selbstbestimmung über den eigenen Körper „ein zentrales Element menschlicher Würde“ ist (so BT-Drs. 20/12609, S. 2), darf in die körperliche Integrität von Patienten mit Hirnfunktionsausfall nicht ohne deren Zustimmung eingegriffen werden.
Quellen:
Vgl. Zimmering, Rebecca/Hammes, Diana: Bericht zur Repräsentativstudie 2022 „Wissen, Einstellung und Verhalten der Allgemeinbevölkerung zur Organ- und Gewebespende“. BZgA-Forschungsbericht, Köln, März 2023, S. 103. ↑
Siehe Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Hrsg.): Was ist der Hirntod?, Köln 2019, S. 124 f. ↑
Deutscher Ethikrat: Hirntod und Entscheidung zur Organspende. Stellungnahme 2015, S. 123 ↑
Vgl. Zimmering/Hammes (Anm. 1), S. 62. ↑
Vgl. Zimmering/Hammes (Anm. 1), S. 66 ↑
Die BZgA-Broschüren „Der unumkehrbare Ausfall der gesamten Hirnfunktionen (Hirntod)“ und „Was ist der Hirntod?“ ↑
Vgl. Schaeffer, Doris/Berens, Eva-Maria/Vogt, Dominique: Gesundheitskompetenz der Bevölkerung in Deutschland. Deutsches Ärzteblatt 2017, S. 54. ↑
Vgl. Bundesärztekammer, Deutsches Ärzteblatt 1993, S. A-2933; Brandt, Stephan/Angstwurm, Heinz: Deutsches Ärzteblatt 2018, S. 678. ↑
Vgl. Amtsgericht Würzburg, Bestellung eines Betreuers für eine Schwangere, deren Gehirnfunktionen ausgefallen sind. Zeitschrift für das gesamte Familienrecht 2019, S. 1821 ff.; Markus Kredel u. a., An- ästhesiologie Intensivmedizin Notfallmedizin Schmerztherapie 2021, S. 526 ff. ↑
Vgl. Deutscher Ethikrat (Anm. 3), S. 80. ↑
Bundesärztekammer: Richtlinie gemäß § 16 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 TPG für die Regeln zur Feststellung des Todes nach § 3 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 TPG und die Verfahrensregeln zur Feststellung des endgültigen, nicht behebbaren Ausfalls der Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms nach § 3 Abs. 2 Nr. 2 TPG, Fünfte Fortschreibung. 2022 (http://bit.ly/48DN1ec), S. 2. ↑
Vgl. Bundesärztekammer (Anm. 12), S. 2. ↑
Vgl. Beckmann, Rainer: Falsche „Hirntod“-Feststellung in Deutschland. Medizinrecht 2023, S. 863 ff. ↑
Vgl. Beckmann, Rainer: Das unbegründete „Hirntod“-Konzept. Juristenzeitung 2023, S. 952 ff. ↑
Vgl. Deutscher Ethikrat (Anm. 3), S. 80. ↑
Bundesärztekammer: Richtlinie gemäß § 16 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 TPG für die Regeln zur Feststellung des Todes nach § 3 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 TPG und die Verfahrensregeln zur Feststellung des endgültigen, nicht behebbaren Ausfalls der Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms nach § 3 Abs. 2 Nr. 2 TPG, Fünfte Fortschreibung. 2022 (http://bit.ly/48DN1ec), S. 2. ↑
Vgl. Bundesärztekammer (Anm. 12), S. 2. ↑
Vgl. Beckmann, Rainer: Falsche „Hirntod“-Feststellung in Deutschland. Medizinrecht 2023, S. 863 ff. ↑