Die Widerspruchsregelung bei der Organspende ist übergriffig

Der Bun­des­rat möch­te die im Jahr 2018 geschei­ter­te Wider­spruchs­re­ge­lung bei Organ­trans­plan­ta­tio­nen doch noch ver­wirk­li­chen. Auch Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­te for­dern eine sol­che Geset­zes­än­de­rung. Bei­de Initia­ti­ven gehen von fal­schen Annah­men aus.

Die Initia­to­ren argu­men­tie­ren, wei­te Tei­le der Bevöl­ke­rung stün­den einer Organ­spen­de posi­tiv gegen­über. Es feh­le ledig­lich an einer Doku­men­ta­ti­on der Spen­de­be­reit­schaft in einem Organ­spen­de­aus­weis oder einer Pati­en­ten­ver­fü­gung. Die Wider­spruchs­re­ge­lung sei ein Instru­ment, die­se „Doku­men­ta­ti­ons­lü­cke“ zu schlie­ßen. Die­ses Nar­ra­tiv beruht auf einer Fehl­in­ter­pre­ta­ti­on ein­schlä­gi­ger Umfra­gen. Angeb­lich gibt es eine „hohe Organ­spen­de­be­reit­schaft“ in der Bevöl­ke­rung. Hier­für wird auf eine Umfra­ge der Bun­des­zen­tra­le für gesund­heit­li­che Auf­klä­rung (BZgA) aus dem Jahr 2022 ver­wie­sen, nach der 84 Pro­zent der Men­schen in Deutsch­land einer Organ- und Gewe­be­spen­de posi­tiv gegen­über­stün­den. Die Fra­ge­stel­lung die­ser Umfra­ge lau­te­te: „Man kann ja Organ- und Gewe­be­spen­der wer­den, wenn man sich bereit erklärt, nach dem Tod sei­ne Orga­ne, z. B. für Nieren‑, Leber- oder Herz­ver­pflan­zun­gen, oder sei­ne Gewe­be zur Ver­fü­gung zu stel­len. Was hal­ten Sie gene­rell von Organ- und Gewe­be­spen­de? Ste­hen Sie dem eher posi­tiv oder eher nega­tiv gegenüber?“

Sozia­le Erwartungshaltung

Es ging also nicht um die indi­vi­du­el­le Organ­spen­de­be­reit­schaft, son­dern um eine gene­rel­le Ein­schät­zung der Mög­lich­keit, Orga­ne oder Gewe­be spen­den zu kön­nen. Eine „eher posi­ti­ve“ Ein­stel­lung zum The­ma Organ- und Gewe­be­spen­de bedeu­tet nicht, die Absicht zu haben, tat­säch­lich selbst Orga­ne zu spenden.

In der glei­chen Umfra­ge haben 44 Pro­zent der Befrag­ten geäu­ßert, sie hät­ten eine posi­ti­ve Ent­schei­dung zur Organ­spen­de getrof­fen. Doch dürf­te ein guter Teil davon nur der sozia­len Erwar­tungs­hal­tung ent­spro­chen haben, die mit einer sol­chen Befra­gung ver­bun­den ist. Nach der all­ge­mei­nen Lebens­er­fah­rung las­sen sich Über­zeu­gun­gen von Men­schen weni­ger danach beur­tei­len, was sie sagen, als danach, was sie tun. In der Trans­plan­ta­ti­ons­me­di­zin beru­hen nur etwa 22 Pro­zent der Organ­ent­nah­men auf einer schrift­li­chen Zustim­mungs­er­klä­rung der Betrof­fe­nen. Die Behaup­tung, eine gro­ße Mehr­heit der Bevöl­ke­rung sei bereit, Orga­ne zu spen­den, ist nicht zutreffend.

Was heißt Spen­de „nach dem Tod“?

Bei den Befra­gun­gen der Bür­ger geht es immer um „post­mor­ta­le“ Organ­spen­den, also um Organ­ent­nah­men „nach dem Tod“. Vor einer Organ­ent­nah­me wird jedoch nie „der Tod“ – wie ihn die meis­ten Men­schen ver­ste­hen – fest­ge­stellt, son­dern ledig­lich der „Hirn­tod“. In der Medi­zin wird die­ser Zustand als „irrever­si­bler Hirn­funk­tions­aus­fall“ bezeich­net. Pati­en­ten mit einem irrever­si­blen Hirn­funk­tions­aus­fall unter­schei­den sich jedoch sehr von kon­ven­tio­nel­len Lei­chen: Zwar wer­den die­se Pati­en­ten – wie vie­le ande­re Inten­siv­pa­ti­en­ten auch – beatmet, doch ihre Lun­gen neh­men selb­stän­dig Sau­er­stoff auf und geben Koh­len­di­oxid ab, das Herz schlägt auto­nom, das Blut zir­ku­liert, Nah­rung und Flüs­sig­keit wer­den auf­ge­nom­men, Abfall­stof­fe wer­den über Leber und Nie­ren aus­ge­schie­den, das Immun­sys­tem bekämpft Kei­me, und Wun­den heilen.

Der gesam­te Orga­nis­mus funk­tio­niert also – nur das Gehirn nicht. Frau­en kön­nen im Zustand des „Hirn­to­des“ über Wochen und Mona­te schwan­ger sein und schließ­lich ein Kind spon­tan gebä­ren. In einem Fall an der Würz­bur­ger Uni­ver­si­täts­kli­nik, der 2019 publi­ziert wur­de, geschah dies nach fast fünf Mona­ten Schwan­ger­schaft. Trotz­dem behaup­ten die Ver­fech­ter des Hirn­tod­kon­zepts, ein irrever­si­bler Hirn­funk­tions­aus­fall sei ein siche­res Zei­chen für den Tod des Men­schen. Dem­nach wäre es mög­lich, dass Lei­chen über meh­re­re Mona­te schwan­ger sind und ein Kind aus­tra­gen. Wie viel Glaub­wür­dig­keit kann eine sol­che Theo­rie für sich beanspruchen?

Richt­li­nie der Ärz­te­kam­mer gesetzeswidrig

Im Trans­plan­ta­tions­ge­setz heißt es, dass vor einer Organ­ent­nah­me neben dem Funk­ti­ons­aus­fall wei­ter Tei­le des Gehirns (§ 3 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 TPG) auch der „Tod“ fest­ge­stellt wer­den muss (§ 3 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 TPG). Allein schon die­se dop­pel­te Vor­aus­set­zung für Organ­ent­nah­men zeigt, dass es zwi­schen Tod und „Hirn­tod“ einen Unter­schied gibt. Trotz­dem wird in der Auf­klä­rung zur Organ­spen­de so getan, als sei­en Tod und „Hirn­tod“ identisch.

Von der jahr­zehn­te­lan­gen wis­sen­schaft­li­chen Kon­tro­ver­se um die Bedeu­tung des „Hirn­to­des“ erfah­ren die Bür­ger nichts. Grund­la­ge aller Auf­klä­rungs­maß­nah­men der BZgA ist das Hirn­tod­kon­zept: die Annah­me, dass ein irrever­si­bler Hirn­funk­tions­aus­fall („Hirn­tod“) ein siche­res Todes­zei­chen sei. Das ist aber weder plau­si­bel, noch ergibt sich die­se Behaup­tung aus dem Gesetz. Auch die Hirn­tod­richt­li­nie der Bun­des­ärz­te­kam­mer gibt hier­für kei­ner­lei Grün­de an. Sie ist daher offen­sicht­lich gesetzeswidrig.

Denn in § 16 Abs. 2 S. 2 TPG heißt es, die Richt­li­ni­en „sind zu begrün­den; dabei ist ins­be­son­de­re die Fest­stel­lung des Stan­des der Erkennt­nis­se der medi­zi­ni­schen Wis­sen­schaft nach­voll­zieh­bar dar­zu­le­gen“. Auf sol­che Erkennt­nis­se kann sich die Bun­des­ärz­te­kam­mer offen­bar nicht stüt­zen. Denn in der Richt­li­nie wer­den sie – con­tra legem – nicht angegeben.

Nach dem Trans­plan­ta­tions­ge­setz hat die Auf­klä­rung über die Vor­aus­set­zun­gen der Organ- und Gewe­be­spen­de „die gesam­te Trag­wei­te der Ent­schei­dung zu umfas­sen und muss ergeb­nis­of­fen sein“ (§ 2 Abs. 1 S. 2 TPG). Des­halb müss­ten die Bür­ger auch über die ver­schie­de­nen Sicht­wei­sen zum Hirn­tod­kon­zept infor­miert wer­den. Das hat auch der Deut­sche Ethik­rat in sei­ner Stel­lung­nah­me von 2015 gefor­dert. Tat­säch­lich wird die Bevöl­ke­rung aber nicht infor­miert, son­dern mani­pu­liert. In ihren Auf­klä­rungs­ma­te­ria­li­en geht die BZgA wie selbst­ver­ständ­lich davon aus, dass Pati­en­ten mit irrever­si­blem Hirn­funk­tions­aus­fall als Lei­chen zu behan­deln sind, ohne die erheb­li­chen Ein­wän­de und Kon­tro­ver­sen in die­ser Fra­ge offen­zu­le­gen. Die Bür­ger erhal­ten zu einer wesent­li­chen Vor­aus­set­zung für eine Ent­schei­dung zur Organ­spen­de kei­ne aus­rei­chen­den Informationen.

Wider­spruchs­re­ge­lung setzt Auf­ge­klärt­heit voraus

Damit fehlt es an einer wesent­li­chen Vor­aus­set­zung für die Ein­füh­rung der Wider­spruchs­re­ge­lung. Wenn der Staat allen Bür­gern grund­sätz­lich Organ­spen­de­be­reit­schaft unter­stellt und ihnen auf­bür­den will, dass sie einen Wider­spruch erklä­ren müs­sen, um von einer Organ­ent­nah­me aus­ge­nom­men zu wer­den, hät­te er min­des­tens sicher­zu­stel­len, dass alle Bür­ger umfas­send infor­miert sind. Tat­säch­lich steht es aber um die Infor­ma­ti­on der Bevöl­ke­rung schlecht. Nach der BZgA-Umfra­ge von 2022 füh­len sich fast die Hälf­te der Bür­ger (45 Pro­zent) zum The­ma Organ­spen­de „weni­ger gut“ oder „schlecht“ informiert.

Das kann auch nicht ver­wun­dern, weil die Vor­aus­set­zun­gen und Umstän­de von Organ­trans­plan­ta­tio­nen nicht leicht zu durch­schau­en sind. Es han­delt sich um eine kom­ple­xe The­ma­tik, mit der die meis­ten Men­schen nie unmit­tel­bar kon­fron­tiert wer­den. Die Wahr­schein­lich­keit, dass bei einem Pati­en­ten der „Hirn­tod“ fest­ge­stellt wird, ist äußerst gering. Die Umstän­de eines Funk­ti­ons­aus­falls des Gehirns und sei­ne Bedeu­tung sind dem Durch­schnitts­bür­ger fremd. Es ist zu ver­mu­ten, dass die Befür­wor­ter der Wider­spruchs­lö­sung genau dar­auf spe­ku­lie­ren: dass vie­le Men­schen, die sich man­gels Bil­dung oder hin­rei­chen­der Auf­klä­rung kei­ne Gedan­ken über die Fra­ge ihrer Organ­spen­de­be­reit­schaft machen kön­nen oder wol­len, auf die­se Wei­se als „Spen­der“ dekla­riert wer­den können.

Vie­le Bür­ger haben zwar eine unge­fäh­re Vor­stel­lung vom The­ma Organ­spen­de, kön­nen aber kaum ein­schät­zen, „wie tot“ sie sind, wenn der „Hirn­tod“ fest­ge­stellt wird. Der Tod ist nach all­ge­mei­ner Auf­fas­sung das Ende des Lebens, aber wann genau ist die­ses Ende erreicht? Genügt es, dass – wie beim „Hirn­tod“ – eine irrever­si­ble Bewusst­lo­sig­keit, ein (durch appa­ra­ti­ve Beatmung kom­pen­sier­ter) Atem­still­stand und ein Aus­fall der Hirn­stamm­re­fle­xe ein­ge­tre­ten sind, oder müs­sen auch die inte­gra­ti­ven Kör­per­funk­tio­nen und der Blut­kreis­lauf zum Still­stand gekom­men sein? Zeigt sich Leben nur im Gehirn? Ist nicht viel­mehr auch die leib­li­che Exis­tenz des wei­ter­hin funk­ti­ons­fä­hi­gen Orga­nis­mus zu berücksichtigen?

Die Bewer­tung des medi­zi­nisch fest­zu­stel­len­den Syn­droms „irrever­si­bler Hirn­funk­tions­aus­fall“ als Todes­zei­chen ist eine gesell­schafts­kul­tu­rel­le Fra­ge, für deren Beant­wor­tung anthro­po­lo­gi­sche, sozio­lo­gi­sche und (verfassungs-)rechtliche Aspek­te eine wesent­li­che Rol­le spie­len. Wie über­zeu­gend die Argu­men­te für oder gegen das Hirn­tod­kon­zept sind und wel­che Aus­wir­kun­gen das auf ihre Organ­spen­de­be­reit­schaft hat, müs­sen die Bür­ger letzt­lich selbst ent­schei­den. Sie müs­sen aber zunächst in die Lage ver­setzt wer­den, eine selbst­be­stimm­te Ent­schei­dung tref­fen zu können.

Kein Zwang zur Entscheidung

Dazu bedarf es einer umfas­sen­den und ehr­li­chen Auf­klä­rung. Aktu­ell wer­den der Bevöl­ke­rung aber die not­wen­di­gen Infor­ma­tio­nen über die Bedeu­tung des irrever­si­blen Hirn­funk­ti­ons­aus­falls für die Fest­stel­lung des Todes vor­ent­hal­ten. Es ist des­halb gut nach­voll­zieh­bar, dass vie­le Men­schen sich nicht in der Lage sehen, eine Ent­schei­dung zur Organ­spen­de zu tref­fen. Es wäre über­grif­fig, wenn der Staat in die­sem sen­si­blen Bereich Ent­schei­dun­gen erzwingt oder im Sin­ne der Wider­spruchs­re­ge­lung eine tat­säch­lich nicht vor­han­de­ne Organ­spen­de­be­reit­schaft allen Bür­gern fik­tiv unterstellt.

Die For­de­rung nach der Wider­spruchs­re­ge­lung baut letzt­lich auf Vor­aus­set­zun­gen auf, die nicht gege­ben sind. Wenn fast die Hälf­te der Bevöl­ke­rung angibt, dass sie sich nicht gut über das The­ma Organ­spen­de infor­miert fühlt, kann es nicht ver­wun­dern, dass sich vie­le Men­schen auch nicht ent­schei­den wol­len – ganz zu schwei­gen von den zahl­rei­chen Men­schen aus bil­dungs­fer­nen Schich­ten, die von Infor­ma­ti­ons­kam­pa­gnen ohne­hin nicht erreicht werden.

All die­sen Bür­gern darf der Staat nicht auf­zwin­gen, trotz­dem eine Ent­schei­dung tref­fen zu müs­sen. Gera­de in Bezug auf ein sehr sel­te­nes Syn­drom, das in sei­ner Bedeu­tung für den Tod des Men­schen nicht leicht zu beur­tei­len ist, wäre ein Zwang zur Ent­schei­dung für wei­te Tei­le der Bevöl­ke­rung eine Über­for­de­rung und damit im juris­ti­schen Sinn ein unver­hält­nis­mä­ßi­ger Ein­griff in das Recht, sich nicht ent­schei­den zu müs­sen – in das nega­ti­ve Selbstbestimmungsrecht.

Eine Wider­spruchs­re­ge­lung beim The­ma Organ­spen­de käme einem schwer­wie­gen­den Para­dig­men­wech­sel gleich: Der Staat wür­de signa­li­sie­ren, dass ihm die Selbst­be­stim­mung der Bür­ger bei einem beson­ders kom­ple­xen und sen­si­blen The­ma, das ihre leib­li­che Inte­gri­tät berührt, egal ist. Das wäre weder recht­lich noch medi­zin­ethisch oder gesell­schaft­lich akzeptabel.

Der Arti­kel erschien erst­mals am 19.09.2024 in der Frank­fur­ter All­ge­mei­nen Zei­tung, FAZ-Ein­spruch, „Die Wider­spruchs­re­ge­lung bei der Organ­spen­de ist über­grif­fig“ von Rai­ner Beck­mann und Jür­gen in der Schmitten

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Wir ver­öf­fent­li­chen die­sen Arti­kel mit Geneh­mi­gung der Autoren:

Rai­ner Beck­mann ist Rich­ter am Amts­ge­richt Würz­burg und Lehr­be­auf­trag­ter für Medi­zin­recht an der Medi­zi­ni­schen Fakul­tät Mann­heim der Uni­ver­si­tät Heidelberg.

Pro­fes­sor Dr. Jür­gen in der Schmit­ten ist nie­der­ge­las­se­ner Fach­arzt für All­ge­mein­me­di­zin, Pal­lia­tiv­me­di­zi­ner und Psy­cho­the­ra­peut. Er lei­tet das Insti­tut für All­ge­mein­me­di­zin der Uni­ver­si­täts­kli­nik Essen.