Klaus Dörner - Leben spenden

Die­ses Refe­rat wur­de am 27.05.2005 im Rah­men einer Podi­ums­dis­kus­si­on auf dem 30. Evan­ge­li­schen Kirchen­tag in Han­no­ver gehalten.

Der Rah­men die­ses Kir­chen­tags in Han­no­ver 2005, der uns auf­for­dert, die Nor­men, nach denen wir leben, uns von unse­ren Kin­dern mor­gen hin­ter­fra­gen zu las­sen, ist Anlass genug, den Titel die­ser Organ­spen­de­Ver­an­stal­tung „Leben spen­den“ erns­ter zu neh­men, als bis­her üblich.

Denn immer noch schla­gen wir uns mit der Dis­kre­panz her­um, dass fast alle Men­schen in Befra­gun­gen für die Organ­spen­de sind, gleich­wohl aber nur 12 % einen ent­spre­chen­den Aus­weis haben und 40% der befrag­ten Ange­hö­ri­gen ihre Zustim­mung zur Organ­spen­de ver­wei­gern. Ich will mich hier zum Sprach­rohr der schwei­gen­den und abs­ti­nen­ten Mehr­heit machen, zu der ich im übri­gen auch gehö­re, um auch die­ser Mehr­heit einen Zugang – einen ande­ren Zugang – zur Organ­spen­de zu eröffnen.

Gera­de die­se erwähn­te Dis­kre­panz, also das Miss­trau­en der Mehr­heit gegen die Organ­spen­de, soll­te vor 10 Jah­ren mit dem rans­plan­ta­ti­ons­ge­setz und dem Hirn­tod­kon­zept aus­ge­räumt wer­den. Ich selbst war damals bei den Bun­des­tags­an­hö­run­gen betei­ligt. Ich habe noch einen Brief vom dama­li­gen Gesund­heits­mi­nis­ter Horst See­ho­fer, des­sen Ernst­haf­tig­keit des Rin­gens um den rich­ti­gen Weg mich genau­so beein­druckt hat wie das des gan­zen Bun­des­ta­ges, das in der Zwei­drit­tel/Ein­drit­tel-Abstim­mung sei­nen Aus­druck gefun­den hat. In die­sem Brief vom 27.09.1995 – für mich ein his­to­ri­sches Doku­ment – heißt es: „Ich weiß, dass die Pro­ble­ma­tik des so genann­ten Hirn­tods vor allem dar­in liegt, dass die ärzt­li­che Fest­stel­lung des Todes nicht mit der seit Jahr­tau­sen­den über­lie­fer­ten sinn­li­chen Wahr­neh­mung vom Tod über­ein­stimmt. Den Men­schen wird hier ein gro­ßes Ver­trau­en in die ärzt­li­che Kunst und deren appa­ra­ti­ve Unter­stüt­zung abver­langt.“ Aus fast 10-jäh­ri­ger Distanz kommt eigent­lich schon in die­sen For­mu­lie­run­gen das unver­meid­li­che Schei­tern des Hirn­tod-Kon­zepts zum Ausdruck.

Schon damals haben vie­le – wie sich heu­te zeigt, offen­bar zu Recht – vor­aus­ge­sagt, dass das Hirn­tod-Kon­zept das Miss­trau­en der Bür­ger gegen die­se Art von Medi­zin nur ver­stär­ken kann. Die wich­tigs­ten Argu­men­te gegen das Hirn­tod-Kon­zept waren damals:

1. Dia­gnos­tisch wer­den hier ein­sei­tig nur die Todes­zei­chen, nicht aber die Lebens­zei­chen des Pati­en­ten berücksichtigt.

2. Inso­fern wird hier ein­sei­tig nur defekt­me­di­zi­nisch, nicht aber voll­stän­dig bezie­hungs­me­di­zi­nisch gedacht und gehandelt.

3. Mit die­sem Kon­zept bean­spru­chen die Medi­zi­ner nicht nur die medi­zi­ni­sche (was in Ord­nung ist), son­dern auch die lebens­welt­lich-kul­tu­rell­re­li­giö­se Deu­tungs­macht über die Bedeu­tung von Leben, Ster­ben und Tod, neh­men sie den Bür­gern und auch den Kir­chen ohne Recht­fer­ti­gung und daher ver­fas­sungs­wid­rig weg, was damals die Kir­chen zwar mit sich machen lie­ßen, nicht aber die Bürger.

4. Die Medi­zi­ner fol­gen damit einem merk­wür­dig künst­li­chen, fal­schen oder zumin­dest über­hol­ten car­te­sia­ni­schen Men­schen­bild vom Men­schen als einem Hirn­we­sen, für den sein Leib nur ein Anhäng­sel ist, was unse­ren bei­den Denk­tra­di­tio­nen, der grie­chi­schen eben­so wie der bibli­schen, widerspricht.

5. In den Augen der Bevöl­ke­rungs­mehr­heit, die sich ihre „seit Jahr­tau­sen­den über­lie­fer­te sinn­li­che Wahr­neh­mung vom Tod“ um kei­nen Preis der Welt von noch so vie­len natur­wis­sen­schaft­li­chen Bewei­sen weg­neh­men lässt, ver­fol­gen die Medi­zi­ner mit ihrer Erfin­dung des Hirn­to­des eine Absicht, die ver­stimmt, näm­lich die Absicht, den schwar­zen Peter die­ses Pro­blems von sich weg- und zu den Ange­hö­ri­gen und den Bür­gern her­über­zu­schie­ben. Denn in dem Maße, wie die Medi­zi­ner sich mit Hil­fe die­ses Kon­zepts ent­las­ten, wonach sie die Ent­nah­me­ope­ra­ti­on jetzt nur noch an einer angeb­li­chen Lei­che vor­neh­men, in dem­sel­ben Maße belas­ten sie damit ins­be­son­de­re die Ange­hö­ri­gen, die von ihrem zwar ster­ben­den, aber mit nor­ma­len Vital­funk­tio­nen als lebend erleb­ten Fami­li­en­mit­glied sich auf­ge­for­dert wis­sen: „Lass mich im Ster­ben nicht allein. Über­las­se mich nicht der Ver­wer­tung. Blei­be bis zu mei­nem Tode bei mir“, wäh­rend der Arzt den Ange­hö­ri­gen auf­klärt „Was du da erlebst, ist Unsinn, ist ein Irr­tum, weil wir natur­wis­sen­schaft­lich bewie­sen haben, dass dein Fami­li­en­mit­glied tot ist“ um dann hin­ter dem Rücken des nach Zustim­mung weg­ge­schick­ten Ange­hö­ri­gen selbst den Pati­en­ten lie­be­voll wie einen Leben­den zu behan­deln und ihn erst mit dem Abklem­men der Herz­ge­fä­ße wäh­rend der Ent­nah­me-Ope­ra­ti­on kei­nes­wegs einen Hirn­tod, son­dern eine ganz nor­ma­len Herz­tod ster­ben lassen.

All die­se Grün­de haben an Trif­tig­keit in den letz­ten 10 Jah­ren eher zuge­nom­men, ein­mal weil wir über brei­te­re Erfah­run­gen ver­fü­gen, zum ande­ren, weil wir uns all­ge­mein kul­tu­rell wei­ter­ent­wi­ckelt haben und zum drit­ten, weil die Hit­ze des dama­li­gen Dog­men­streits ver­flo­gen und die dadurch bewirk­ten Denk­ver­bo­te wir­kungs­lo­ser gewor­den sind.

Dies will ich mit mei­nem fol­gen­den Vor­schlag nut­zen, ein Vor­schlag, der neue Wege eröff­net und der einer Ethik der gerech­ten Ver­tei­lung der Antei­le des schwar­zen Peters folgt:

In dem For­mu­lar zur Bean­tra­gung des Organ­spen­der­aus­wei­ses wird jedem Bür­ger der jet­zi­ge Ent­schei­dungs­weg belas­sen, jedoch um eine wei­te­re Wahl­mög­lich­keit ergänzt – etwa mit fol­gen­den Wor­ten: „Weil ich das Hirn­tod-Kon­zept für falsch, unmensch­lich, ver­fas­sungs­wid­rig oder unmo­ra­lisch hal­te, bin ich zur Spen­de mei­ner Orga­ne zwar bereit, aber nur unter der Bedin­gung, dass alle Betei­lig­ten davon aus­ge­hen, dass ich nicht nur bis zu mei­nem so genann­ten Hirn­tod, der real nur als Hirn­tod-Syn­drom exis­tiert1)[1], son­dern bis zu mei­nem Herz­tod ein leben­der Mensch und nicht aus der Gemein­schaft der Leben­den aus­ge­schlos­sen bin.“ Das bedeu­tet zwar für die Ärz­te eine mora­li­sche Erschwe­rung, aber für mich genau­so; denn ich kann eine Spen­de, ein Geschenk, ein Opfer, eine Gabe nicht als Lei­che, son­dern nur als leben­der Mensch geben; nur als leben­der Mensch kann ich mich von einem Ande­ren dazu bestim­men las­sen. Inso­fern kann es nur Lebend­spen­den geben. Und schließ­lich: ob der Arzt mir nur eine Nie­re ent­nimmt oder ob er mit dem Abklem­men der Herz­ge­fä­ße mei­nen ohne­hin sich voll­zie­hen­den, oft sogar schon über­fäl­li­gen Ster­be­pro­zess gewäh­ren lässt – in jedem Fall begeht er im her­kömm­li­chen Sin­ne eine straf­ba­re Kör­per­ver­let­zung, gerecht­fer­tigt nur auf­grund mei­ner frei gewähl­ten Ver­ant­wor­tung und auch nur dann, wenn ich mit mei­ner Ver­ant­wor­tung auf die vita­le Not eines kon­kre­ten Ande­ren ant­wor­te, mich einer Bedeu­tung für Ande­re aus­set­ze, was mich in der letz­ten Lebens­pha­se mei­nes Ster­bens ohne­hin mehr bestimmt als mei­ne Selbstbestimmung.

Mit die­sem fai­ren Las­ten­aus­gleich zwi­schen allen wäre Ver­trau­en wie­der her­ge­stellt. Ärz­te, Pfle­gen­de, Spen­der, Ange­hö­ri­ge und Emp­fän­ger wären wie­der ehr­lich, die Spen­den­be­reit­schaft wür­de erheb­lich stei­gen. Und alle könn­ten mit die­sem Kom­pro­miss für die heu­ti­ge Über­gangs­zeit leben, bis der tech­ni­sche Fort­schritt die trotz allem immer frag­wür­di­ge Organ­spen­de über­flüs­sig gemacht haben wird.

Die nicht nur, aber vor allem bibli­sche Vari­an­te der Ethik-Begrün­dung, war­um hier kein Tötungs­de­likt vor­liegt, lau­tet: Es ist der äußers­te, daher sel­te­ne, jedoch unver­meid­lich not­wen­di­ge Hori­zont einer frei­en Ver­ant­wor­tungs-Ethik, mein Leben stell­ver­tre­tend für den Ande­ren, vom Letz­ten her, zu geben, also auch mein Ster­ben (als Leben) zunächst nicht von der Furcht vor mei­nem eige­nen Tod, son­dern (da der Tod immer der Tod des Ande­ren ist) von mei­ner Furcht um den Tod des Ande­ren bestim­men zu las­sen und mein Leben (nicht mei­ne Lei­che) für den Ande­ren zu geben.

Zum Schluss – und hier ganz neben­bei – wür­de ein ähn­li­cher Gedan­ken­weg auch zur Begrün­dung der Erwei­te­rung des Krei­ses der Berech­tig­ten zur Lebend­spen­de im heu­ti­gen, enge­ren Sin­ne bei­tra­gen: In unse­rer kul­tu­rel­len Wei­ter­ent­wick­lung sind Ten­den­zen mit Hän­den zu grei­fen, wonach wir post­mo­der­nen Men­schen – nicht nur als Gegen­re­ak­ti­on gegen die Glo­ba­li­sie­rung – uns auch wie­der mehr, wie in der Vor­mo­de­me, im loka­len Nah­raum, im drit­ten Sozi­al­raum, in der Nach­bar­schaft orga­ni­sie­ren und uns von daher bestim­men las­sen. Nach­bar­schaft ist aber mensch­heits­ge­schicht­lich immer schon als der­je­ni­ge ein­zi­ge Sozi­al­raum defi­niert, der für das Hel­fen der Bür­ger in über­durch­schnitt­li­chen Not- und Krank­heits­fäl­len zustän­dig ist. Die Wie­der­be­le­bung des Nach­bar­schafts­raums wird aber schon allein durch die schier unend­li­che Zunah­me der Alters­pfle­ge­be­dürf­ti­gen für die Bür­ger unver­meid­lich. Es neh­men also die guten Grün­de auch dafür zu, den Kreis der beson­ders ver­bun­de­nen Per­so­nen für die Lebend­spen­de auf den Sozi­al­raum der Nach­bar­schaft zu erweitern.

In bei­den Per­spek­ti­ven lohnt es sich daher, den Gesetz­ge­ber zu ermu­ti­gen, das Trans­plan­ta­tions­ge­setz – über die dama­li­ge hek­ti­sche Not­ope­ra­ti­on von 1997 hin­aus – neu zu über­den­ken und zugleich ver­fas­sungs­kon­for­mer zu machen; denn es darf nur dar­um gehen, Leben zu spenden.


  1. Andre­as Zie­ger: Medi­zi­ni­sches Wis­sen und Deu­tung in der Bezie­hungs­me­di­zin‘ – Kon­se­quen­zen für Trans­plan­ta­ti­ons­me­di­zin und Gesell­schaft, in: A. Man­zei u. a. (ed.): Trans­plan­ta­ti­ons­me­di­zin – Kul­tu­rel­les Wis­sen und gesell­schaft­li­che Pra­xis (im Erschei­nen).