Leserbrief: Gedanken zur Einführung der Widerspruchslösung im Falle der Organtransplantation

In Deutsch­land wird seit Jah­ren über die Rege­lun­gen zur Organ­spen­de dis­ku­tiert, ins­be­son­de­re dar­über, wie die Bereit­schaft zur Spen­de von Orga­nen gestei­gert wer­den kann. Bis­her gilt, dass Men­schen, denen kurz vor ihrem Tod Orga­ne zum Zwe­cke der Trans­plan­ta­ti­on ent­nom­men wer­den sol­len, die­sem Ein­griff zuvor schrift­lich zuge­stimmt haben müs­sen. Da die Zahl der ver­füg­ba­ren Spen­der­or­ga­ne jedoch deut­lich unter der der benö­tig­ten Orga­ne liegt, soll in Zukunft nach Ansicht der Trans­plan­ta­ti­ons­me­di­zi­ner und man­cher Poli­ti­ker die Wider­spruchs­lö­sung ein­ge­führt wer­den. Das wür­de bedeu­ten, dass eine belie­bi­ge Anzahl von Orga­nen ent­nom­men wer­den kann, um sie zu trans­plan­tie­ren, wenn der poten­ti­el­le Spen­der oder die Spen­de­rin zuvor nicht schrift­lich und offi­zi­ell Wider­spruch ein­ge­legt hat. 

Trans­plan­ta­ti­ons­me­di­zi­ner kön­nen Orga­ne nur ver­pflan­zen, wenn der Orga­nis­mus des Spen­ders wäh­rend der Ent­nah­me, die sich über sechs bis acht Stun­den hin­zieht, lebt. Der Spen­der befin­det sich im Ster­be­pro­zess, er wird beatmet und es muss ver­hin­dert wer­den, not­falls durch Wie­der­be­le­bung, dass er stirbt. Der Spen­der befin­det sich im irrever­si­blen Koma, wie man die­sen Zustand bis 1968 nannte. 

1968 war das Jahr, in dem das ers­te Herz trans­plan­tiert wur­de, und zwar durch den süd­afri­ka­ni­schen Herz­chir­ur­gen Chris­tia­an Bar­nard. Man such­te dann nach einem neu­en Begriff für den Zustand des Ster­ben­den, der den mas­si­ven Ein­griff in einen noch leben­den Orga­nis­mus recht­fer­tigt, und ersetz­te „irrever­si­bles Koma“ durch das Wort „Hirn­tod“.

In die­sem Zusam­men­hang scheint mir ein Zitat des Direk­tors des Har­vard Medi­cal School Center´s for Bio­e­thics, Pro­fes­sors Robert D. Truog, eines renom­mier­ten ame­ri­ka­ni­schen Medi­zi­ners und Bio­ethi­kers, der ins­be­son­de­re für sei­ne Arbei­ten in den Berei­chen Medi­zin­ethik, Inten­siv­me­di­zin und Phi­lo­so­phie des Lebens­en­des bekannt ist, von Bedeutung: 

Der Hirn­tod wird gegen­über der Gesell­schaft oft als ein glas­kla­res Kon­zept dar­ge­stellt – als wäre die Linie zwi­schen Tod und Leben dabei klar defi­niert. Aber das stimmt nicht. Der Hirn­tod ist kein wis­sen­schaft­li­ches Fak­tum; er ist kei­ne medi­zi­ni­sche Dia­gno­se. Er ist eine sozia­le Über­ein­kunft. Es ist wich­tig zu wis­sen, was man meint, wenn man sagt, jemand sei tot. Wenn man damit jeman­den meint, der kalt ist und des­sen Kör­per steif ist und der beer­digt wer­den kann, dann sind Hirn­to­te nicht tot. Sie kön­nen in die­sem Zustand noch Jah­re wei­ter­le­ben. Was eini­ge Men­schen mei­nen, wenn sie von Hirn­to­ten als Tote spre­chen, ist, dass die­se Per­so­nen für immer im Koma sein und nicht mehr auf­wa­chen wer­den. (…) Ich glau­be aber nicht, dass dies der Zustand ist, den die meis­ten Men­schen als Tod bezeich­nen wür­den. Die Öffent­lich­keit wird in die­sem Punkt nicht klar informiert. 

(Der Streit um den Hirn­tod. In: Arte vom 24.3.2018. Zitiert nach: Die Organ­spen­de als neue mora­li­sche Norm.) 

Soweit die Aus­sa­ge eines Medi­zi­ners zur Wis­sen­schaft­lich­keit des Begriffs Hirntod. 

Juris­tisch gese­hen han­delt es sich bei der Bezeich­nung Hirn­tod um „legal fic­tion“, was mit „erlaub­ter Unwahr­heit“ recht prä­zi­se über­setzt wer­den kann.

Hin­weis der Redaktion

legal fic­tion“ bedeu­tet „Recht­li­che Fik­ti­on“.

Inter­es­sant ist was Wiki­pe­dia dazu schreibt: „Die Fik­ti­on besteht in der bewuss­ten Gleich­set­zung unter­schied­li­cher Tat­be­stän­de. So wird etwas ange­nom­men, was in Wahr­heit (noch) nicht ist.“

Die recht­li­che Fik­ti­on des irrever­si­blen Hirn­funk­ti­ons­aus­fal­les ist nur not­wen­dig, da die­se Pati­en­ten gera­de nicht tot sind im klas­si­schen Sin­ne (d.h. es han­delt sich nicht um eine erkal­te­te Leiche).

Die Unwahr­heit liegt in der Behaup­tung, ein Gehirn kön­ne tot sein. Das Gehirn kann auf­hö­ren zu funk­tio­nie­ren, aber es kann nicht tot sein [in einem ansons­ten leben­di­gen Kör­per. Anmer­kung der Redaktion].

Hin­weis der Redaktion

Spä­tes­tens seit dem Fall der Jahi McMath 2018 wird in der inter­na­tio­na­len Wis­sen­schaft wie­der dis­ku­tiert mit wel­chen Test­ver­fah­ren über­haupt die Unum­kehr­bar­keit eines Hirn­funk­ti­ons­aus­fal­les fest­ge­stellt wer­den kann und ob die­ser mit dem Tod des Men­schen als Gan­zes gleich­ge­setzt wer­den darf.

Wenn nun sowohl medi­zi­nisch als auch juris­tisch Über­ein­kunft dar­über besteht, dass ein Mensch im irrever­si­blen Koma nicht tot ist, wie ist es dann zu recht­fer­ti­gen, dass die­ser Mensch einer auf­wen­di­gen Ope­ra­ti­on unter­zo­gen wer­den kann, näm­lich der Organ­ent­nah­me, ohne dass er die­sem Ein­griff zuvor zuge­stimmt hat? 

Hin­zu kommt die irre­füh­ren­de Bezeich­nung des geplan­ten Geset­zes als „Wider­spruchs­lö­sung“. Der Euphe­mis­mus Wider­spruchs­lö­sung gau­kelt die Frei­heit zu wider­spre­chen vor und ver­sucht damit zu ver­schlei­ern, dass hier aus dem Unwil­len vie­ler, beson­ders jun­ger Men­schen, sich mit dem Tod und damit der Fra­ge der Organ­spen­de zu befas­sen, Kapi­tal geschla­gen wer­den soll. Stel­len wir uns vor, ein jun­ger Mann hat­te einen schreck­li­chen Unfall, und, wie güns­tig, er hat sich nicht ins 

Wider­spruchs­re­gis­ter ein­tra­gen las­sen, wir neh­men uns alles, was wir irgend­wie gebrau­chen kön­nen. Hier soll­te man jedoch nicht von einer Spen­de spre­chen, die­ses Wort zu ver­wen­den, wäre in der Situa­ti­on anma­ßend, da eine Spen­de einen Spen­der vor­aus­setzt, der zu spen­den bereit ist. 

Darf der ster­ben­de Kör­per einer Frau, die in jugend­li­cher Unbe­fan­gen­heit an nichts weni­ger dach­te als an ihr vor­zei­ti­ges Able­ben, umfunk­tio­niert wer­den zu einem Ersatz­teil­la­ger für mensch­li­che Organe? 

Der ers­te Arti­kel unse­res Grund­ge­set­zes stellt fest, dass „die Wür­de des Men­schen unan­tast­bar“ sei. Wie ist es mit der Wür­de des ein­zel­nen ver­ein­bar, dass ohne sei­ne erklär­te Zustim­mung in sei­nen Kör­per ein­ge­grif­fen wird? Es ist eben nicht ver­ein­bar. Und, um noch einen Schritt wei­ter zu gehen, die Wür­de eines Men­schen endet nicht mit sei­nem Tod. Der Schutz der Toten­ru­he ist in Deutsch­land juris­tisch ver­an­kert. Die Wür­de eines Men­schen schlägt sich nie­der in dem Respekt, mit dem wir ihm begeg­nen. Begeg­nen wir doch auch dem Ster­ben­den mit Respekt und tra­gen sei­ner Wür­de Rech­nung, indem wir nur dann in sei­nen Kör­per ein­grei­fen, wenn er uns zuvor die Geneh­mi­gung erteilt hat. 

30.10.2024 Mar­ga­re­te Andresen