Wissenschaftler Daniel Kersting fordert von der Transplantationsmedizin wirkliche Aufklärung der Bevölkerung und beklagt den „dogmatischen Moralismus“ der üblichen Kampagnen.
Daniel Kersting vom Institut für Philosophie an der Universität Jena
Bericht von Gebhard Focke, Schriftführer von KAO
Sonja Schäfer, Organspendebeauftragte des Landes Bremen, hatte für den 15.11. zu einem Vortrag in das Klinikum Bremen-Mitte eingeladen. Titel des Vortrags von Dr. Daniel Kersting vom Institut für Philosophie der Friedrich-Schiller-Universität Jena war:
Was bedeutet „Aufklärung“ im Kontext der Organspende?
Zu Beginn machte er die widersprüchlichen Intentionen des geltenden Transplantationsgesetzes deutlich: Im §1 heißt es, das Ziel des Gesetzes sei eine Erhöhung der Organspendezahlen; im §2 wird verlangt, dass die Aufklärung umfassend und ergebnisoffen sein soll.
Ausgehend von einem Idealbild von „Aufklärung“ wurde die bisherige Praxis der Organspende-Kampagnen überprüft. Dann wurden Forderungen entwickelt, die eine wirkliche Aufklärung möglich machen.
Aufklärung bedeutet, die eigenen Überzeugungen kritisch zu überprüfen und evtl. zu ändern. Das findet immer in einem sozialen Zusammenhang statt und ist ein offener Lern- und Erfahrungsprozess.
Exemplarisch stellte Kersting eine Plakatkampagne für Organspende vor, bei der eine Comicfigur in den Raum schwebt mit der Aussage: „Das kannst du auch!“ Ohne Sachaussage gab es nur einen Appell an ein heldenhaftes Individuum.
Kersting machte den dahinter stehen Syllogismus deutlich:
- Behauptung: Leben retten ist moralische Pflicht
- Behauptung: Organspende ist Leben rettend
- daraus abgeleitete Schlußfolgerung: Organspende ist moralische Pflicht
Kersting sprach von einer „dogmatischen Übertrumpfung“ anderer Moral- und Ethikvorstellungen, und das sei nicht mit wirklicher Aufklärung zu vereinbaren.
Bei dieser Betrachtungsweise würden viele Dinge ausgeblendet, z.B. die Sichtweise/Rolle der Angehörigen ebenso wie die Problematik des (Hirn-)Todes.
Dagegen setzte er vier Forderungen, um eine wirkliche Aufklärung zu erreichen:
- Perspektivenvielfalt statt Individualismus:
Der Tod ist keine Sache des Einzelnen, sondern immer in einen sozialen Zusammenhang eingebunden. Folglich sind die Perspektiven der an der Organspende Beteiligten einzubeziehen, ihre Interessen und Erfahrungen.
- Selbstkritik und Zweifel statt moralischem Dogmatismus
Es kann nicht darum gehen, die herrschenden Moralvorstellungen und Nützlichkeitserwägungen zu verstärken, sondern sie zu hinterfragen.
- Thematisierung des Todes statt Marginalisierung und Ausschluss
Es muss klar werden, dass diese Medizin die Verwertung von sterbenden Menschen zur Voraussetzung hat. Diese Tatsache sollte nicht verschleiert, sondern thematisiert werden. Dabei sollte auch auf die besondere Situation des Hirntodes eingegangen werden, seine aggressive Diagnostik und die Zweifel, die seit Jahren an der Hirntodkonzeption bestehen.
- Bild- und Sprachkritik
Am Beispiel des Begriffs „Organmangel“ machte Kersting deutlich, dass dieser neutral scheinende Begriff Forderungen enthält, über die anscheinend nicht mehr nachgedacht werden muss: „Mangel“? – muss beseitigt werden, also brauchen wir mehr Organe!
Am Schluss wurde klar, dass eine wirklich umfassende Aufklärung ohne Rücksicht auf die Folgen stattzufinden hat; sie kann nicht davon abhängig gemacht werden, ob sie schließlich zu mehr oder weniger Organen führt.
Gebhard Focke
Artikel über Daniel Kersing im Deutschen Ärzteblatt
“Daniel Kersting: Vorschläge für andere Organspendekampagnen” von Eva Richter-Kuhlmann
https://www.aerzteblatt.de/archiv/183064/Daniel-Kersting-Vorschlaege-fuer-andere-Organspendekampagnen
Dtsch Arztebl 2016; 113(42): A-1879 / B-1583 / C-1571