Offener Brief an Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert

Sehr geehr­ter Herr Pro­fes­sor Lammert,

wir wen­den uns an Sie in Ihrer Funk­ti­on als Bun­des­tags­prä­si­dent. Alle fünf Frak­tio­nen des Bun­des­tags haben sich am 1.3.2012 in einem Arbeits­ent­wurf auf die Erklä­rungs­lö­sung bei Organ­spen­den geei­nigt. Von eini­gen Jour­na­lis­ten wur­de die­se Ver­ein­ba­rung sogar als „Stern­stun­de des Par­la­ments“ bezeich­net. Doch wir Mit­glie­der der „Kri­ti­schen Auf­klä­rung über Organ­trans­plan­ta­ti­on“ und vie­le ande­re Men­schen in unse­rer Gesell­schaft bewer­ten das ganz anders. Denn Grund­la­ge für eine Ent­schei­dung zur Organ­ent­nah­me, die im Ernst­fall nicht rück­gän­gig zu machen ist, muss eine ehr­li­che Infor­ma­ti­on im Organ­spen­der­aus­weis sein, in der poten­ti­el­le Organ­spen­der umfas­send infor­miert werden:

1. Ein neu­er Todes­be­griff wur­de ein­ge­führt, um Organ­ent­nah­men bei leben­di­gem Leib zu ermög­lich­en, der sog. Hirn­tod.
2. Wie wird das Hirn­ver­sa­gen fest­ge­stellt?
3. Wer­den dabei die neu­es­ten Unter­su­chungs­me­tho­den ange­wandt?
4. Kön­nen Organ­spen­der eine Nar­ko­se ein­for­dern, die seit kur­zem in der Schweiz vor­ge­schrie­ben ist?
5. Wel­che Orga­ne kön­nen ent­nom­men und ver­pflanzt wer­den?
6. Wel­che Gewe­be kön­nen ent­nom­men wer­den?
7. Wer kon­trol­liert und gewähr­leis­tet, dass die per­sön­li­che Wil­lens­er­klä­rung ein­ge­hal­ten wird?
8. Im Aus­weis muss dar­auf hin­ge­wie­sen wer­den, dass die Ange­hö­ri­gen das Recht auf Ein­sicht in die Kran­ken­ak­te, das Hirn­tod­pro­to­koll und die Auf­zeich­nun­gen von der Ent­nah­me­ope­ra­ti­on haben.

Die Hirn­tod­dia­gnos­tik wird an einem Men­schen durch­ge­führt, der noch den Sta­tus eines Pati­en­ten hat und dem damit alle Rech­te eines sol­chen zuste­hen. Das heißt, poten­zi­el­le Organ­spen­der müs­sen umfas­send über die Gefähr­lich­keit des Apnoe­tests infor­miert wer­den sowie dar­über, dass ihnen die größ­ten Schmerz­rei­ze gesetzt wer­den, die in die­sem fra­gi­len Zustand mög­li­cher­wei­se erst den Tod bringen.

Die Ein­füh­rung des Hirn­tod­kon­zep­tes durch die Trans­plan­ta­ti­ons­me­di­zin ist nach unse­rer Erfah­rung eine bit­te­re Lek­ti­on in Sachen Demo­kra­tie, denn Inter­es­sen­grup­pen haben den Tod neu defi­niert, ohne die medi­zi­ni­schen Lai­en zu infor­mie­ren. Wis­sen­schaft­li­che Erkennt­nis­se, dass der Hirn­tod nicht der Tod des Men­schen ist, wer­den ver­schwie­gen (sie­he White Paper des President’s Coun­cil on Bio­e­thics, USA 2008). Inter­na­tio­nal ver­su­chen Ver­tre­ter der Trans­plan­ta­ti­ons­me­di­zin dar­auf­hin, den Begriff des „jus­ti­fied kil­ling“ ein­zu­füh­ren. Das Grund­recht auf Selbst­be­stim­mung wird ver­letzt, weil die stell­ver­tre­ten­de Zustim­mung von Ange­hö­ri­gen, die sich im Schock­zu­stand befin­den, zur Regel gewor­den ist: Neun von zehn Organ­spen­dern haben nicht selbst ein­ge­wil­ligt, und vie­len Ange­hö­ri­gen geht erst hin­ter­her die Trag­wei­te ihrer stell­ver­tre­ten­den Zustim­mung auf. Die­sen Miss­stand will man durch die vor­ge­schla­ge­ne Erklä­rungs­lö­sung behe­ben, indem die Bür­ge­rin­nen und Bür­ger regel­mä­ßig auf­ge­for­dert wer­den sol­len, über Organ­spen­de nach­zu­den­ken und sich mög­lichst zu erklären.

Doch ohne eine offe­ne und ehr­li­che Infor­ma­ti­on über alle Vor­aus­set­zun­gen, den Ablauf und die Kon­se­quen­zen einer Organ­ent­nah­me, bei der kei­ne Ster­be­be­glei­tung mög­lich ist, bleibt die Organ­ent­nah­me von Ster­ben­den im Hirn­ver­sa­gen eine zutiefst inhu­ma­ne Vor­ge­hens­wei­se, die auch nicht durch die Hil­fe für Men­schen, die auf ein frem­des Organ war­ten, gerecht­fer­tigt wer­den kann.

Wir bit­ten Sie, sich als Bun­des­tags­prä­si­dent für einen ehr­li­chen Umgang mit uns Bür­gern in die­sem ethisch umstrit­te­nen Bereich ein­zu­set­zen und dar­an mit­zu­wir­ken, dass der Organ­spen­de­aus­weis alle Infor­ma­tio­nen ent­hält, die für eine trag­fä­hi­ge Ent­schei­dung der Bür­ge­rin­nen und Bür­ger not­wen­dig sind.

Mit freund­li­chen Grüßen

Rena­te Focke
1. Vor­sit­zen­de KAO

Ant­wort von Bun­des­tags­prä­si­dent Lam­mert auf offe­nen Brief von KAO (319 Downloads )